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Nie sicher genug

Gehören Ausbeutung und Polizeigewalt nicht auch zur Unsicherheit, fragt Yossi Bartal.

Unsicher für wen? Wasserwerfer der Berliner Polizei in Neukölln.
Unsicher für wen? Wasserwerfer der Berliner Polizei in Neukölln.

Ausgerechnet in einer gleichgeschlechtlichen Sauna habe ich kurz vor der Europawahl Sahra Wagenknecht zu Gesicht bekommen. Leider nicht persönlich, aber ihr Bild mit zurückgekämmtem Haar und einem leichten, wissenden Lächeln strahlte mir vom Cover eines kostenlosen schwulen Männermagazins entgegen, das neben der Bar auslag. »Für eine aufgeklärte Leitkultur«, stand darunter – und ich, verschwitzt nach dem letzten Aufguss, musste unbedingt weiterlesen, was die große Kritikerin liberaler Identitätspolitik dort zu sagen hatte.

Im Interview sprach sie dann überzeugend über die Schaffung von Sozialwohnungen und nicht-kirchlichen Altersheimen als wichtige Elemente im Kampf gegen LGBT-Diskriminierung. Die größte Gefahr für Homosexuelle hierzulande verortete sie dennoch ganz unmaterialistisch in den „radikalen Spielarten des Islam“. Anscheinend gäbe es sogar „Stadtviertel, in denen sich Homosexuelle nicht auf die Straße trauen“. Welche das sein sollen, wurde nicht weiter erläutert. Aber als Neuköllner habe ich so ein Gefühl, hier wollte die ehemalige Linke der kulturkämpferischen Marotte nachgehen, Minderheiten gegeneinander auszuspielen.

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

Wagenknecht ist nicht allein. Tatsächlich wird in den Medien oft die Vorstellung verbreitet, mein migrantisch geprägter Bezirk sei eine No-Go-Area für Schwule, Juden oder sogar für Frauen ohne Kopftuch. Einmal, als ich zu Recherchezwecken in Greifswald war, wo die AfD soeben mehr als ein Drittel aller Stimmen bekam, wurde ich von einem Barkeeper besorgt gefragt, ob ich keine Angst hätte, so nah an der Sonnenallee zu wohnen. Der süße blonde Mann hatte bis zu unserer Begegnung zwar noch nie einen Juden in echt getroffen, war aber fest davon überzeugt, mein Viertel, wo ich ständig auf Hebräisch-Sprechende und knutschende Queers stoße, sei für mich extrem gefährlich.

Dass mit Unsicherheit Politik gemacht wird, ist keine Neuigkeit. Konservative weltweit haben Ängste vor Straßengewalt und Armutskriminalität stets angeheizt und politisch genutzt, um nach dem starken, strafenden Staat zu rufen. Heute wird jedoch im gesamten politischen Spektrum mit Gefühlen der Unsicherheit gearbeitet – obwohl wir in Europa, historisch gesehen, noch nie so sicher vor Gewaltverbrechen waren wie in den letzten zwei Jahrzehnten.

Mit diesem neuen politischen Verständnis wird zugleich sehr weit und sehr eng definiert, was uns unsicher macht: Während neben körperlicher Gewalt immer mehr eine als verletzend empfundene Sprache als Bedrohung in den Vordergrund tritt, fallen extreme Ausbeutung, Verdrängung und Polizeigewalt kaum unter die Kategorie der Unsicherheit. Dabei ist es nicht überraschend, dass einige staatlich finanzierte Projekte gegen Diskriminierung das Verhalten von Einzelpersonen auf der Straße oder online in den Fokus nehmen, anstatt sich mit institutioneller und ökonomischer Gewalt auseinanderzusetzen.

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Nirgendwo wirkt diese Verschiebung im Diskurs so realitätsfern wie in meinem Kiez. Wie sonst lässt sich erklären, dass sich gerade in den Jahren, in denen das Problemviertel als schwulen- und judenfeindlich deklariert wurde, so viele Queers und Juden aus aller Welt hier niedergelassen haben? Nur in meiner Straße gibt es mehr queere Kneipen als in ganz Mecklenburg-Vorpommern, und im Bezirk leben heute mehr Juden, vor allem israelischer und amerikanischer Herkunft, als in einigen Bundesländern zusammen.

Perfekt ist nichts. Auch bei uns gibt es Rassismus, Antisemitismus und Homophobie. In den letzten acht Monaten ist zudem die Stimmung im Bezirk deutlich angespannter geworden, denn die Nachrichten aus Israel und Palästina, wo viele von uns Freunde und Verwandte haben, machen wütend. Die überproportionale Polizeipräsenz im Bezirk, die mit ihren Racial-Profiling-Methoden eher einer Besatzungsmacht ähnelt, macht jedoch niemanden sicherer. Dass in den letzten Monaten nicht nur Araber, sondern auch zahlreiche Juden Opfer von Polizeigewalt wurden, weil sie an pro-palästinensischen Demonstrationen teilnahmen, wird in deutschen Medien nicht einmal als Randnotiz erwähnt.

Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umhöre, sind es letztendlich diese Aktionen der Polizei, neben steigenden Mieten, Kürzungen im Sozialbereich und fehlenden Fahrradwegen, die das Sicherheitsgefühl im Bezirk tatsächlich beeinträchtigen. Besorgt stellen sie jedoch fest, dass man mit keinem dieser Themen Angst vor Ausländern schüren kann und daher nicht als gern gesehener Gast in Fernsehstudios eingeladen wird – im Gegensatz zu einigen unserer Lokalpolitiker.

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