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Griechische Küstenwache warf Geflüchtete ins Mittelmeer
Medienbericht sieht Verantwortung für Tod von Dutzenden Migranten
Die griechische Küstenwache hat in den vergangenen drei Jahren den Tod von Dutzenden Migranten im Mittelmeer verursacht. Mindestens neun von ihnen seien absichtlich ins Mittelmeer geworfen worden, berichtet der britische Sender BBC unter Berufung auf Aussagen von Zeugen.
Laut der Recherche mit dem Titel »Totenstille« zeigen die Vorfälle ein klares Muster. Auf einem Film sind demnach zwölf Personen zu erkennen, die von einem Boot der Küstenwache in einem Schlauchboot ausgesetzt wurden.
Die BBC legte den Bericht mit Aufnahmen, die von Geflüchteten stammen, einem ehemaligen hochrangigen Vertreter der griechischen Küstenwache vor. Dieser bezeichnete das Vorgehen – als er das Mikrofon der Reporter für abgeschaltet hielt – als »offensichtlich illegal« und »internationales Verbrechen«.
Die griechische Küstenwache weist die Vorwürfe solcher illegalen Pushbacks entschieden zurück. Die Regierung wird jedoch seit langem beschuldigt, Menschen illegal in die Türkei zurückzudrängen. Diese Praxis verstößt gegen internationales Recht.
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Die BBC hat versucht, die Zahl der Todesfällen bei derartigen Menschenrechtsverletzungen zu berechnen, und zog dafür Berichte aus lokalen Medien, von Nichtregierungsorganisationen und der türkischen Küstenwache heran. Von Mai 2020 bis 2023 kam es demnach bei 15 Vorfällen zu 43 Toten. Die Verifizierung sei jedoch schwierig, so die BBC, da Zeugen oft verschwänden oder Angst hätten auszusagen. In vier Fällen seien die Angaben durch Augenzeugen bestätigt worden.
Ein Mann aus Kamerun berichtete der BBC, er sei im September 2021 auf der Insel Samos von griechischen Behörden gejagt und mit zwei weiteren Migranten auf ein Boot der Küstenwache gebracht worden. Die beiden anderen seien ins Wasser geworfen worden und ertrunken. Ihre Leichen wurden dem Bericht zufolge an der türkischen Küste gefunden.
In einem ähnlichen Fall soll ein Mann aus Somalia im März 2021 auf der Insel Chios von der griechischen Armee an die Küstenwache übergeben worden sein, die ihn mit gefesselten Händen ins Wasser geworfen haben soll. Er überlebte knapp, drei seiner Begleiter starben, so die BBC.
Im September 2022 ertranken laut dem Bericht mehrere Kinder, nachdem die Küstenwache 85 Migranten nahe der Insel Rhodos in türkische Gewässer zurückgebracht und in ein Schlauchboot gesetzt hatte, das zu sinken begann.
Die Recherche belegt außerdem, wie Behörden den Geflüchteten systematisch das Recht auf Asyl vorenthalten. Interviewpartner berichteten demnach, Männer in Zivil und oft maskiert hätten sie aufgegriffen, verschleppt und in die Türkei zurückgeschickt.
Diese Pushback-Praxis wird seit Jahren von Menschenrechtsgruppen dokumentiert. Beinahe zeitgleich mit dem BBC-Bericht machte am Montag auch Al Jazeera eine Recherche öffentlich, die belegt dass griechische Polizeitruppen auf der Insel Kos Geflüchteten ihre Mobiltelefone wegnehmen, ihnen die Augen verbinden, diese fesselt und auf diese Weise mutmaßlich einen Pushback vorbereitet. Darüber hatte die Organisation Aegean Boat Report vor einem Jahr berichtet und ein Video online gestellt.
Der österreichische Aktivist Fayad Mulla filmte einen solchen Vorfall im Februar 2023 auf Lesbos. Die Polizei versuchte, die Aufnahmen zu löschen, und beschuldigte ihn, Widerstand geleistet zu haben. Zwei Monate später filmte Mulla einen Pushback-Vorfall, über den die »New York Times« berichtete. Frauen und Kinder wurden dabei von einem Lieferwagen auf ein kleines Boot gebracht und auf dem Meer ausgesetzt. Später wurden sie von der türkischen Küstenwache gerettet.
Eine investigative Journalistin auf Samos erklärte der BBC dazu, ein Mitglied der griechischen Spezialeinheiten habe auf der Dating-Plattform Tinder geschrieben, sein Beruf bestehe darin, dass er Flüchtlingsboote zurückdränge und dafür Anweisungen vom Minister erhalte.
Die BBC hat die griechische Küstenwache mit ihren Recherchen konfrontiert und erhielt zur Antwort, das Personal arbeite »mit höchster Professionalität, Verantwortung und Respekt vor dem menschlichen Leben« und halte sich »vollständig an internationale Verpflichtungen«. Das Ministerium für maritime Angelegenheiten und Inselpolitik sagte der BBC, das Filmmaterial des Senders durch die unabhängige Nationale Transparenzbehörde untersuchen zu lassen.
Am Freitag jährte sich das größte Schiffsunglück im Mittelmeer, das sich am 14. Juni 2023 vor der griechischen Stadt Pylos ereignet hatte. 600 Menschen waren ertrunken, nachdem ihr Trawler »Adriana« in Griechenlands Rettungszone gesunken war. Die griechische Küstenwache behauptet, das Holzschiff sei nicht in Seenot gewesen, deshalb habe sie keinen Rettungsversuch unternommen. Menschenrechtsorganisationen haben diese Darstellung in Rekonstruktionen als falsch entlarvt.
Vor drei Wochen wurden neun beinahe mit der »Adriana« ertrunkene Ägypter freigesprochen, die von der Justiz als Schlepper für das Unglück verantwortlich gemacht worden waren. Sie waren deshalb wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Beihilfe zur illegalen Einreise nach Griechenland und vorsätzlicher Herbeiführung eines Schiffbruchs angeklagt.
Andere vor Pylos Gerettete haben bei einer Pressekonferenz am Freitag in Berlin Forderungen aufgestellt. »Wir fordern, dass die Menschen, die dafür verantwortlich sind, dass das Schiff sank, zur Rechenschaft gezogen werden. Wir fordern das Bergen der Schiffsruine aus dem Meer. Wir fordern, dass die griechische Regierung die Leichen, über die sie verfügt, ohne bürokratische Verkomplizierung an die Angehörigen herausgibt«, erklärten die Überlebenden.
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