Debatte in Brandenburg: Arm als Kind und im Alter

Brandenburgs Landtag debattiert über die Armut: drei Sichtweisen auf ein Problem

  • Andreas Fritsche und Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.

Nicht wenige Brandenburger mussten sich in den 90er Jahren von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten hangeln und bekommen heutzutage weniger als 1000 Euro Rente. Das weiß die Landtagsabgeordnete Roswitha Schier (CDU). Aber: »Wir leben Gott sei Dank in einem Sozialstaat. Die Menschen werden aufgefangen.« Sie erhalten beispielsweise Wohngeld. Das äußert Schier am Donnerstag in der Aktuellen Stunde des Landtags, in der auf Antrag der Linksfraktion über Armut und Armutsbekämpfung diskutiert wird. Sorge bereiten Schier nicht die Armen, die ja angeblich aufgefangen werden, sondern die Eltern, die nicht kochen können und ihre Kinder nicht erziehen. »Das alles muss das Elternhaus leisten und vieles davon kostet kein Geld.«

Der Abgeordnete Matthias Stefke versichert zwar, dass seine Freien Wähler für einen »fürsorgenden Sozialstaat« stünden. Er kann sich aber nicht verkneifen, über das »asoziale Verhalten« zu schimpfen, sich in die »soziale Hängematte« zu legen. Es dürfe sich nicht rechnen, morgens liegen zu bleiben, während andere aufstehen und zur Arbeit gehen, meint Stefke.

Gegen die Idee der Linken, die Mindestrente zu erhöhen, hegt der SPD-Abgeordnete Günter Baaske Bedenken. Dann würden die, die nur 30 Stunden in der Woche arbeiten, später genauso viel Rente bekommen wie andere, die 40 Stunden berufstätig sind, argumentiert er. Bei der Gelegenheit weist Baaske gleich noch einen Vorschlag der AfD zurück, für jede Geburt 2500 Euro zu gewähren: »Ich will nicht das Kind sein, das gezeugt wurde, weil meine Eltern einen Gebrauchtwagen brauchten oder einen Fernseher zur Fußball-EM.«

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Linksfraktionschef Sebastian Walter ahnt schon, was ihm von den anderen Parteien anschließend entgegengehalten wird, als er die Aktuelle Stunde am Morgen eröffnet. Zum Beispiel, dass die Renten und das Bürgergeld Bundessache seien. Aber Brandenburg könnte und müsste auch etwas tun, sagt Walter. Er berichtet von der alleinerziehenden Mutter, die für 1800 Euro im Monat bei einem Paketdienst schuftet und die 200 Euro für die Klassenfahrt der Kinder nicht übrig hat. Er erzählt von der Rentnerin, die 40 Jahre gearbeitet hat und nun nicht weiß, wie sie die Mieterhöhung bezahlen soll. Die Probleme seien bekannt, aber auch die Lösungen. »Denn Geld ist da!« Für Panzer und Raketen werde es ausgegeben, nur für Rentner und Niedriglöhner nicht, bedauert der Linksfraktionschef.

Nach fünf Jahren Koalition aus SPD, CDU und Grünen in Brandenburg stelle sich die Frage, ob es den Menschen im Bundesland besser oder schlechter gehe. Walter gibt die Antwort selbst: »Die Menschen haben weniger im Portemonnaie und das ist schon einmal eine skandalöse Tatsache.« 14,8 Prozent der Brandenburger seien von Armut nicht nur bedroht, sondern betroffen. Jedes fünfte Kind lebe in Armut und die Altersarmut nehme zu. Bundesweit sinke die Armutsquote, in Brandenburg sei sie zuletzt im Mai gestiegen.

Jeder dritte Vollzeitbeschäftigte bekomme nur einen Niedriglohn. Doch die CDU weigere sich, einer Anhebung des Vergabemindestlohns und einer Tariftreueregelung zuzustimmen, kritisiert Walter. Der Vergabemindestlohn legt fest, wie viel Stundenlohn eine Firma ihren Beschäftigten mindestens bezahlen muss, wenn sie Aufträge vom Land und den Kommunen erhalten will. Die Tariftreueregelung knüpft Fördermittel für die Wirtschaft an die Bedingung, sich an Tarifverträge zu halten. Walter erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass hierzulade inzwischen 97 Prozent der Produktivität Westdeutschlands erreicht seien, die Brandenburger jedoch im Schnitt im Jahr dennoch 13 000 Euro weniger Lohn bekommen als ihre Kollegen im Westen. Der Abstand sei seit 2021 sogar noch gestiegen. Damals habe die Lücke 11 000 Euro betragen. »Das können Sie den Menschen nicht erklären, weil es absurd ist.« Aber wenn das Geld nicht reicht, müssten sich die Brandenburger anhören, sie könnten mit Geld nicht umgehen und sollten die Schuldnerberatung aufsuchen, ärgert sich Walter immer wieder und so auch am Donnerstag im Landtag.

Doch was der Linksfraktionschef vorrechne, stimme vorne und hinten nicht, sagt Sozialdemokrat Baaske. So wenige Arme wie in Brandenburg gebe es sonst nur in Baden-Württemberg und in Bayern. Der Paritätische Wohlfahrtsverband erkenne an, dass sich Baden-Würrtemberg, Bayern und Brandenburg in dieser Hinsicht positiv entwickeln. Bei den Armen würden beispielsweise auch die 50 000 Studierenden in Brandenburg mitgerechnet, weil diese selten mehr als 1200 Euro im Monat zur Verfügung haben. Aber die Studierenden hätten ja eine positive Zukunft mit guten Einkommen vor sich, winkt Baaske ab. Er erwähnt außerdem, dass die Bundesregierung jährlich 127 Milliarden Euro für die Renten dazuschieße, obwohl diese eigentlich durch die Rentenversicherung abgedeckt sein sollen. Die 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr gebe es dagegen nur einmalig.

Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) hält Walter vor, tatsächlich sinke die Armutsgefährdungsquote in Brandenburg. Wer unsauber mit statistischen Angaben umgehe, trage zur Verunsicherung bei, wirft sie Walter vor.

Zumindest teilweise gibt Grünen-Fraktionschef Benjamin Raschke dem Linksfraktionschef Walter Recht, auch wenn er wie von diesem erwartet auf die Verantwortung des Bundes verweist. »Der Vergabemindestlohn muss rauf auf 15 Euro«, findet Raschke – und diese Lohnuntergrenze als Bedingung öffentlicher Aufträge legt das Land fest. Eine Zwischenfrage von Walter lässt Raschke nicht zu. Er zeigt zur AfD-Fraktion und sagt zu Walter: »Wir sollten uns nicht aneinander abarbeiten. Da drüben sitzt der Feind.«

Für die AfD sind wie immer die Geflüchteten schuld. Das Prinzip Umverteilung funktioniere nicht mehr, wenn es immer mehr Leute gebe, denen man etwas zuteilen müsse, und immer weniger, denen man etwas wegnehmen könne, sagt AfD-Fraktionschef Hans-Christoph Berndt. Walter wirft ein, dass niemand einen Cent mehr in der Tasche hätte und die Mieten immer noch zu hoch wären, wenn Deutschland alle Flüchtlinge abschieben würde. Aber dann würde in den Restaurants niemand mehr das Bier an den Tisch bringen und es würde Personal in den Pflegeheimen fehlen, da dort viele Migranten tätig seien.

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