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Der lange Winter der Klimabewegung
Der Sammelband »Kipppunkte« liefert Inputs für eine dringend nötige Reflexion zum Stand der Klimabewegung
Während sich die Klimakrise zuspitzt, ist die Klimabewegung schwach wie lange nicht. So lautet die bittere wie paradoxe Diagnose des Jahres 2024. Wohlmeinend formuliert, befindet sich die Klimabewegung im deutschsprachigen Raum in einem »Findungsprozess«, der Autor Manuel Grebenjak spricht von einer »Krise«.
»Anfang 2024«, schreibt Grebenjak in seinem unlängst veröffentlichten Sammelband »Kipppunkte«, »befindet sich die Klimabewegung mitten in einem Winter«. Es fehle an Mobilisierungskraft und gesellschaftlichem Rückhalt, innerhalb der Bewegung herrsche Orientierungslosigkeit, und andere Krisen überlagerten das Geschehen. »Derzeit sieht es nicht danach aus, als könnte die Bewegung bald wieder zu ihrer Stärke vor der Pandemie zurückfinden«, stellt Grebenstein in der Einleitung nüchtern fest.
Die Klimabewegung mag sich in einer Krise befinden, aber unter der Oberfläche brodelt es: Abseits der Öffentlichkeit formiert sich die Bewegung derzeit neu, erprobt andere Strategien und debattiert die Fehler der Vergangenheit. Das Buch »Kipppunkte« gibt einen Eindruck davon: Mehrere Dutzend Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen gehen darin der Frage nach, was es braucht, damit die Klimabewegung wiedererstarkt, welche sozialen und politischen Kipppunkte erreicht werden müssen, um einen sozial-ökologischen Umbau voranzutreiben.
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»Ökosystem« Bewegung
Der Herausgeber und Aktivist Grebenjak gibt mit dem Band eine Art Kartografie und Standortbestimmung der deutschsprachigen Klima(gerechtigkeits)bewegung. Im Hauptteil des Buches stellen Aktivist*innen der wichtigsten Organisationen – von Fridays for Future und Greenpeace bis zu Lützerath Lebt! und der Letzten Generation – überblicksartig und subjektiv die Geschichte, Strategien, Herausforderungen und Perspektiven ihrer Gruppierungen dar. Gemeinsam bilden sie das, was Grebenjak zu Beginn als »Ökosystem« einführt: die Klimabewegung als ein offenes, dynamisches und komplexes System, in dem jeder Teil seine je spezifische Rolle ausfüllt. Durch eine Vielzahl an Taktiken und Strategien, die verfolgt werden, ergänzen sich so im Optimalfall liberale, radikale und widerständige Akteur*innen symbiotisch. So ein System ist zudem, um im Bild zu bleiben, auf eine funktionierende »Umwelt« angewiesen; es kann nur gedeihen, wenn die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen passen.
Derzeit kriselt es allerdings inner- und außerhalb des »Ökosystems«. Dessen Einzelporträts leben davon, dass sie in ihrer Gesamtheit – mal implizit, mal explizit – die zentralen Konfliktlinien und Herausforderungen der Klima(gerechtigkeits)bewegung und linker Politik im Allgemeinen thematisieren. Dies betrifft Fragen zum Verhältnis von Klasse und Identität, zu Strategien, Taktiken und Bündnispolitik, nach Militanz und Radikalität sowie nach gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit, das Verhältnis zu Staat, Institutionen und Polizei, den Umgang mit Repressionen.
Dem Herausgeber Grebenjak sowie zahlreichen Autor*innen gelingt es, die Porträts theoretisch wie historisch zu kontextualisieren und einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen. Denn eine solche – darüber herrscht von der ersten bis zur letzten Seite Einigkeit – braucht es dringender denn je.
Höhepunkt und Resignation
Ihren bisherigen Zenit, so Grebenjak, habe die Klimabewegung spätestens im Herbst 2019 überschritten. Am 20. September 2019 demonstrierten in Deutschland 1,4 Millionen Menschen mit Fridays for Future (FFF) für mehr Klimaschutz. Noch am selben Tag mischte sich Ernüchterung in den Freudentaumel: Das von der Bundesregierung präsentierte Klimaschutzpaket war ein Schlag ins Gesicht vieler Aktivist*innen. Mit dem Paket, das von zahlreichen Expert*innen als unzureichend bewertet wird, erreichte die Bewegung »einen internen Kipppunkt«.
»Den meisten war klar«, schreiben Etienne Denk und Greta Waltenberg von FFF Deutschland, »dies war der Höhepunkt, größer würden die Proteste und die Berichterstattung darüber nicht mehr werden«. Fortan lähmten Frustration, strategische Orientierungslosigkeit und interne Konflikte nicht nur FFF, sondern nahezu die gesamte Bewegung, deren Ressourcen sich nach monatelangen, eng getakteten Aktionen dem Ende zuneigten. Die Corona-Pandemie sollte den Abwärtstrend nur noch beschleunigen. Daran hat sich bis heute, trotz intensiver interner Debatten, wenig geändert: »Vier Jahre nach dem 20. September 2019 bestimmen Resignation und Ohnmacht das alltägliche Gefühl vieler Aktivist*innen«, schreiben Rika Müller-Vahl, Mara Schaffer und Niklas Droste vom Bündnis #WirFahrenZusammen.
Extinction Rebellion (XR), die eine andere Strategie als FFF verfolgten und es europaweit mit spektakulären Aktionen in die Schlagzeilen schafften, machte nichtsdestotrotz eine ähnliche Entwicklung durch. »Es ist in den fünf Jahren des Bestehens nicht gelungen, die Ziele der Bewegung zu erreichen«, resümieren die XR-Aktivistinnen Judith Pape und Anna Kontriner. Und weiter: »In keinem einzigen der Länder, in denen XR aktiv ist, konnte genug Druck aufgebaut werden, um die Regierung zum Handeln zu zwingen.«
Radikal systemkonform
Zunächst erfolgversprechender wirkten die Aktionen der Letzten Generation. Mit vergleichsweise wenig Aufwand schaffte es eine überschaubare Zahl von Aktivist*innen, für Monate die Klimakrise in den öffentlichen Fokus zu rücken. Kurzfristig erweckte die Letzte Generation den Eindruck, sie könnte der Klimabewegung neues Leben einhauchen. Doch medial diskutiert wurden weniger die Forderungen der Letzten Generation als die Protestformen selbst, auf gut Österreichisch vor allem die Frage: »Ja, dürfen’s denn des?« Staat, Industrie, Medien und Autofahrer*innen waren sich schnell einig: »Nein. Dürfen sie nicht.« Entsprechend reagierte man entsprechend, mit Verunglimpfungen, physischen Attacken, Kriminalisierung und repressiven, staatlichen Maßnahmen bis hin zur Abhörung von Telefonen und Gefängnisstrafen.
Trotz des reformistischen Charakters der Forderungen der Letzten Generation – ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen und die Fortführung des 9-Euro-Tickets – blieben diese ungehört. Schlimmer noch: Wie Autor*innen an verschiedenen Stellen in »Kipppunkte« kritisieren, wirkten sich die Aktionen der Letzten Generation negativ auf andere Teile des »Ökosystems« aus. Zwar befürwortet eine Mehrheit der Deutschen einen umwelt- und klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft, dennoch lehnen 85 Prozent die Letzte Generation ab.
In der öffentlichen Wahrnehmung, so die Autor*innen, habe die Letzte Generation viel Vertrauen verspielt. Straßenblockaden würden vor allem individuelles (Fehl-)Verhalten in den Fokus rücken – auch wenn dies nicht die Intention der Letzten Generation ist – und daher von weiteren Teilen der Bevölkerung als moralisierend wahrgenommen. Die Aktionen der Letzten Generation, so sieht es auch Grebenjak, haben einen »deutlich negativen Effekt auf die öffentliche Meinung in Bezug auf die Klimabewegung«. Das bekommt die Bewegung als Ganzes zu spüren. Von Oktober 2019 bis Juni 2023 hat sich die Unterstützung für die Klimabewegung in Deutschland auf 34 Prozent halbiert. Zudem wirken sich – mittlerweile von einem Teil der Bevölkerung als legitim erachtete – staatliche Repressionen auch auf andere Organisationen aus.
Historisch, so erläutern Andreas Malm und Tatjana Söding vom wissenschaftlich-aktivistischen Forschungszusammenschluss Zetkin Collective in ihrem Beitrag, war die Zusammenarbeit von (liberaler) Masse und einem radikalen Flügel in vielen Fällen durchaus fruchtbar. Das Problem im Fall Letzte Generation ist nur: Die Organisation agiert aus Sicht von Malm und Söding keineswegs radikal. Ihre Aktionen erzeugten zwar ein nie dagewesenes mediales Echo, zielten aber auf die (erzwungenen) Mobilitätsgewohnheiten von Individuen, nicht auf einen radikalen Systemwandel. Die Letzte Generation attackiert weder den Staat noch das (fossile) Kapital, sondern appelliert an Politiker*innen, diese mögen doch wissenschaftliche Forschung endlich ernst nehmen.
Vor der Blüte?
In einer »Vogelperspektive auf das Ökosystem« führt Herausgeber Grebenjak die Vielzahl an Positionen, Perspektiven und Herausforderungen im Schlussteil von »Kipppunkte« zusammen. Diese »Vogelperspektive« Grebenjaks ist es, die das Buch so lesenswert macht: In nüchterner, klarer Sprache ordnet und systematisiert der Herausgeber die vielschichtigen Beiträge und bringt somit Klarheit in eine verworrene, mitunter hitzige Debatte.
»Die Reibung zwischen verschiedenen Bewegungsflügeln war wohl noch nie so groß wie zu dieser Zeit«, resümiert Grebenjak. Dies habe neben strategischen Differenzen auch am mangelnden Austausch zwischen den Flügeln gelegen. Dennoch gebe es »weiterhin eine große und starke Basis und vielfältige Akteur*innen mit verschiedenen Ansätzen und Stärken«. Potenzial sieht Grebenjak insbesondere in neu entstehenden Bündnissen aus Klimabewegung und Gewerkschaften, die soziale mit ökologischen Fragen verknüpfen: »Ein neues Aufblühen der Bewegung ist möglich«. Vor der metaphorischen Blüte muss allerdings erst einmal der Winter ausgestanden werden.
Manuel Grebenjak (Hg.): Kipppunkte. Strategien im Ökosystem der Klimabewegung. Unrast-Verlag, 400 S., br., 22 €.
Die Letzte Generation attackiert weder den Staat noch das (fossile) Kapital, sondern appelliert an Politiker*innen.
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