Rias-Bericht: Zahl der Antisemitismus-Vorfälle fast verdoppelt

Drei Viertel der erfassten Fälle dem Bereich »israelbezogener Anti­semi­tismus« zugeordnet. Bundesbeauftragter Klein fordert Schärfung des Strafrechts

4782 antisemitische Vorfälle registrierte die Meldestelle Rias 2023 – rund 13 pro Tag.
4782 antisemitische Vorfälle registrierte die Meldestelle Rias 2023 – rund 13 pro Tag.

Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland ist im vergangenen Jahr drastisch gestiegen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) dokumentierte 4782 Fälle – eine Zunahme von über 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Deutlich mehr als die Hälfte der Vorfälle wurde nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 registriert.

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein sprach am Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin von »absolut katastrophalen Zahlen«. Der Rias-Bericht zeige, dass der Hamas-Angriff »als Brandbeschleuniger« für Antisemitismus gewirkt habe. »Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik.«

»In allen Lebensbereichen werden Jüdinnen und Juden angefeindet, bedroht und angegriffen«, bilanzierte der Geschäftsführer des Rias-Bundesverbands Benjamin Steinitz. Seit der Hamas-Attacke am 7. Oktober sei ein offenes jüdisches Leben noch weniger möglich als zuvor. Antisemitismus zwinge inzwischen viele Betroffene, »ihre jüdische Identität zu verbergen«, so Bianca Loy, die Ko-Autorin des Berichts.

2787 oder 58 Prozent der Vorfälle fanden nach dem 7. Oktober statt. Dies seien mehr als im gesamten Vorjahr gewesen, teilte Rias mit. Laut Bericht bot dies eine »Gelegenheitsstruktur für antisemitische Äußerungen und Handlungen in Deutschland«: Teils als unmittelbare Reaktion auf den Angriff der Hamas, teils später vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges.

»In allen Lebensbereichen werden Jüdinnen und Juden angefeindet, bedroht und angegriffen.«

Benjamin Steinitz,  Rias-Bundesvorstand

Auch bei gewalttätigen Vorfällen sei der Hamas-Angriff eine Zäsur gewesen, erklärte die Meldestelle. Fünf von sieben Fällen extremer Gewalt fanden demnach nach dem 7. Oktober statt. Rias dokumentierte insgesamt 121 gewalttätige Vorfälle, darunter sieben Fälle, die als »extreme Gewalt« eingeordnet werden.

Dazu gehören zwei Brandanschläge auf das Haus einer jüdischen Familie in Nordrhein-Westfalen. »Während die Fackeln in der ersten Nacht kein Feuer verursachten, entzündeten sie in der zweiten Nacht Gartenutensilien. Der Familie gelang es, das Feuer zu löschen, bevor es sich weiter ausbreiten konnte«, heißt es in dem Bericht. Nach den Angriffen sei eine großflächige Schmiererei am Haus entdeckt worden. Unter anderem stand dort »Geld regiert die Welt«, »Fuck Israel« und »Free Palestine«.

Registriert wurden außerdem fast 200 Fälle antisemitischer Bedrohung. Dazu kommen über 300 Fälle von Sachbeschädigung. Der verbleibende Großteil der Fälle ist der Kategorie »verletzendes Verhalten« zugeordnet. Dabei geht es beispielsweise um Beleidigungen oder um antisemitische Schmierereien an Hauswänden. So wurde in Berlin wenige Tage nach dem 7. Oktober die Tür eines Hauses, in dem auch eine jüdische Bewohnerin lebt, mit einem Davidstern versehen. Wenig später sei in Hannover an die Tür der Wohnung einer Jüdin die Parole »Free Palestine« gemalt worden.

Die Forderung »Free Palestine« sowie die Beleidigung »Fuck Israel« werden von den Meldestellen nicht per se als antisemitischer Vorfall gewertet, erläutert der Bericht. Diese würden die Äußerungen nur in Fällen erfassen, in denen ein weiterer antisemitischer Kontext ersichtlich sei, erklärt Rias-Geschäftsführer Steinitz. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn mit der Forderung nach einem freien Palästina die Abschaffung Israels gemeint sei. Das impliziere etwa die Parole »From the river to the sea, Palestine will be free«.

Antisemitisch werde die Parole »Free Palestine« überdies, wenn damit Jüdinnen und Juden in Deutschland adressiert und damit zu vermeintlichen Stellvertretern Israels gemacht werden. Auch wenn die Parole an Gedenkorten an die Schoa geäußert wird oder im Kontext von Gedenkveranstaltungen, um das Gedenken gezielt zu stören, versteht Rias das als Erinnerungsabwehr und somit als Antisemitismus. In mehreren Länderberichten wird außerdem der Ausruf »Free Palestine from German Guilt« als antisemitisch gewertet.

Ob wirklich alle erfassten Vorfälle eine eindeutig antisemitische Intention hatten oder ob sie Kritik am völkerrechtswidrigen Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza oder der Westbank darstellen, kann nicht überprüft werden, da sowohl im Bundesbericht als auch in den zugrundeliegenden Länderberichten nicht für alle Nennungen der Parolen die Umstände dezidiert erläutert werden.

Rias orientiert sich bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle an der in Fachkreisen umstrittenen IHRA-Definition für Antisemitismus, die bestimmte kritische Haltungen gegenüber dem Staat Israel als antisemitisch auffasst. Antisemitismus richtet sich nach dieser Definition gegen jüdische Institutionen und religiöse Einrichtungen, aber auch gegen Israel als »jüdisches Kollektiv«.

Zusätzlich nutzt Rias nach eigenen Angaben den sogenannten 3D-Test, um zu bestimmen, ob Kritik an Israel als antisemitisch gewertet wird: Demnach gelten Aussagen zu Israel als antisemitisch, wenn sie gegenüber dem Staat »Doppelstandards, Delegitimierung oder Dämonisierung« anwenden. Der Test stammt nicht aus der Antisemitismusforschung, sondern wurde von dem israelischen Politiker Natan Sharansky formuliert. Kritiker bemängeln, der Test sei zu unkonkret und könne zu leicht missbraucht werden, um legitime Kritik an Israels Palästina-Politik als antisemitisch zu diskreditieren.

Insgesamt ordnet Rias fast drei Viertel der erfassten Vorfälle der Kategorie »israelbezogener Antisemitismus« zu. Erstmals, sagte Loy, seien die meisten antisemitischen Vorfälle im Bereich des »antiisraelischen Aktivismus« zu verorten. Zudem seien mehr Fälle eindeutig dem links-antiimperialistischen oder »islamisch-islamistischen« Spektrum zuzuordnen.

Der Antisemitismus-Beauftragte Klein betonte, der Kampf gegen Antisemitismus sei eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«. Er bekräftigte seine Forderung nach einer Verschärfung des Strafrechts. Dabei geht es insbesondere um eine Ergänzung im Strafgesetzbuch, um auch den Aufruf zur Vernichtung von Staaten unter Strafe zu stellen. Mit Agenturen

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) weist darauf hin, dass RIAS-Meldestellen die Forderung »Free Palestine« und auch die Beleidigung »Fuck Israel« nicht per se als antisemitischen Vorfall dokumentieren. Wir haben einen Absatz dieses Textes und den dazu gehörigen Kommentar entsprechend umformuliert und um Beispiele ergänzt.

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