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EM: Nicht »begnadet für das Schöne«, Austria arbeitet Fußball
Österreich geht vor Vizeweltmeister Frankreich als Gruppensieger ins Achtelfinale – nachdem die Niederlande bezwungen wurde
Auch bei dieser Europameisterschaft gibt es natürlich Mannschaften, die Fußball spielen – und jene, die Fußball arbeiten. Marcel Sabitzer ließ keinen Zweifel daran, in welche Kategorie seine Österreicher einzuordnen sind. »Wir arbeiten hart«, sagte der Mittelfeldallrounder. »Aber wir feiern auch gut.« Dafür blieb nach dem abschließenden Gruppenspiel gegen die Niederlande reichlich Zeit. Mit 3:2 hatten die Österreicher gewonnen, hochverdient. Nicht mal sieben Kilometer vom Berliner Olympiastadion entfernt konnte dann die Dienstagnacht zum Tag gemacht werden. Selbst der »Herr Teamchef«, wie Trainer Ralf Rangnick von österreichischen Journalisten gern angesprochen wird, konnte nicht verhindern, dass im nahegelegenen Schlosshotel Grunewald die nächste rot-weiß-rote EM-Party geschmissen wurde.
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»Begnadet für das Schöne«, heißt es seit 1947 in der Bundeshymne der Republik Österreich. Auf die Fußballauswahl traf dies in der langen Zeit nur selten zu, deshalb waren Trikots mit so legendären Namen wie Prohaska oder Krankl auch am Dienstagabend oft in Berlin zu sehen. Fortschrittlich ist seit zwölf Jahren schon das Gegröle vor jedem Länderspiel: »Heimat großer Töchter und Söhne« heißt es seitdem geschlechtergerecht in der Hymne. »Zukunftsreich« wie die besungene Alpenrepublik aber scheint nun endlich auch der beliebte Ballsport zu sein, genau genommen seit zwei Jahren, seit der »Herr Teamchef« am Werk ist. Nachdem 2022 zum sechsten Mal in Folge die Qualifikation für eine WM verpasst worden war, kam Rangnick. Dessen Bilanz: 25 Spiele, 15 Siege – und nur zwei Niederlage in den letzten 17 Spielen.
Feiern zum falschen Text
»Dei hohe Zeit ist lang vorüber«, so beginnt die inoffizielle Nationalhymne Österreichs. Dieser Text von Rainhard Fendrichs »I am from Austria« passt gerade jetzt auch nicht mehr zu den Fußballern des Landes. Aber Rangnick mag das Lied. Und Sabitzer erzählte, es sei das Lieblingslied des Teams. Eng umschlungen sangen es Trainerteam und Mannschaft zusammen mit mehr als 20 000 Fans im Olympiastadion. Kurz zuvor, da standen alle schon vor der Fankurve am Marathontor, hatte Innenverteidiger Maximilian Wöber die Blicke seiner Mitspieler aufgeregt in Richtung Anzeigetafel gelenkt. Dort stand nicht mehr die 2 hinter der niederländischen und die 3 vor der österreichischen Flagge. Dort thronte Austria an der Spitze der Gruppe D – vor Frankreich, den Niederlanden und Polen. Die Stadion-Party in Rot-Weiß-Rot begann jetzt so richtig.
An gut gelaunten Österreichern war man schon den ganzen Tag in der EM-Stadt nicht vorbeigekommen. Sechs Minuten nach dem Anpfiff konnten sie das erste Mal jubeln. Die Führung war nach einer druckvollen Anfangsphase trotz eines Eigentores des Niederländers Donyell Malen verdient. Dass seine Mannschaft kämpft, läuft und leidenschaftlich verteidigt, das setzt Rangnick voraus. Und so hatte sie nach dem Abpfiff vier Kilometer mehr in den Beinen als der Gegner, mehr Balleroberungen, mehr Zweikämpfe im Abwehrbereich und dort auch mehr gelungene Rettungstaten.
Richtige Reaktion nach Gegentoren
Bei dem, was über Statistisches, vor allem aber Planbares hinausgeht, da war sich Österreichs Trainer vor dem Spiel nicht so sicher. Danach zeigte er sich »beeindruckt von der Reaktion« seiner Spieler »nach den Gegentoren«. Zwei Minuten nach Wiederanpfiff hatte Cogy Gakpo für die »Oranjes« ausgeglichen. Enttäuscht waren später diejenigen, die gedacht hatten, dass die Niederländer den Gegner jetzt auseinanderkombinieren würden. Die Drangphase währte nicht mal eine Viertelstunde. »Kurz schütteln und einfach weiter machen«, so beschrieb Sabitzer die zweite Halbzeit.
Zwölf Minuten nach dem Ausgleich waren die Österreicher durch Romano Schmid wieder in Führung gegangen. Diese verteidigten sie nicht nur, sondern spielten mindestens auf Augenhöhe mit dem Gegner. So war das zwischenzeitliche 2:2 der Niederländer durch Memphis Depay auch keine zwingende Folge spielerischer Bemühungen. Sabitzers Siegtreffer in der 80. Minute schon. »Ich lauf gern überall rum«, sagte er zu seinem wunderschönen Treffer aus halblinker Position in den Torwinkel – und seinem ganzen Auftritt, bei dem der 30-Jährige auf der 10 sowohl das Offensivspiel lenkte, als auch jederzeit Pressing- und Abwehrarbeit verrichtete. Als er davon sprach, stand die Trophäe für den Spieler des Spiels direkt vor ihm.
Vom »Holland, Holland, Holland« der Anhänger in Orange, das beim Fanmarsch zum Stadion so viele beeindruckt hatte, war während des Spiels kaum etwas zu hören. Ein Grund ist die Erwartungshaltung: Alle – die Niederländer, ihre Nationalmannschaft selbst und die ganze Fußballwelt – zählen die »Elftal« immerfort zu den Favoriten. Also zu denjenigen, die Fußball spielen. Und das in schönster Art und Weise.
Leiden unter historischer Last
Warum nur? Schon die jüngere EM-Statistik widerlegt das: 2012 Vorrundenaus, 2016 nicht qualifiziert, 2021 Schluss im Achtelfinale. Und der bislang einzige Titelgewinn einer niederländischen Nationalelf liegt 36 Jahre zurück. Unter der historischen Last des »totaalvoetbal« der Generation Cruyff, die wiederum selbst in den 70er Jahren in Schönheit gestorben war, leiden ihre Nachfolger noch immer. In Berlin brachten sie gerade mal zwei Bälle auf das österreichische Tor, die dann auch im Netz zappelten. Weil aber nicht mal diese Effizienz zum Erfolg führte, fällte der umstrittene Trainer Ronald Koeman ein vernichtendes Urteil: »Meine Mannschaft hat sehr schlecht gespielt, es war wirklich furchtbar.«
Als Sabitzer und Rangnick ausführlich Auskunft über das Zustandekommen des ersten österreichischen Sieges über die Niederlande seit 34 Jahren gegeben hatten, war sich auch Thomas Trukesitz nicht mehr so sicher, was am Mittwoch wirklich noch möglich ist. Den eigentlich geplanten Medientermin für diesen Tag ließ der Pressesprecher des österreichischen Nationalteams nicht gleich platzen, verwies aber freundlich darauf, dass darüber nochmal informiert werde. Verantwortlich dafür waren weder Trukesitz noch Rangnick, sondern der verletzte Kapitän David Alaba. Ob Trainerteam oder Betreuerstab – welche Rolle er bei dieser EM genau spielt, ist nicht ganz klar, in jedem Fall eine entscheidende. »David hat der Mannschaft schon gesagt, dass am Mittwoch kein Training ist«, erzählte Rangnick. Weil er daran anscheinend eh nichts mehr ändern konnte, ließ er die Leine dann gleich ganz lang und lud auch noch die »Freundinnen, Frauen und Familien« der Spieler zum Feiern ins Grunewalder Teamcamp ein. Und der Spaß ist noch lange nicht vorbei: Am Dienstag werden die Österreicher im Achtelfinale wieder mit Freude Fußball arbeiten.
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