»Wahlen im Iran sind ein sehr wichtiges Druckmittel«

Iran-Kenner Bernard Hourcade über die Bedeutung der Präsidentschaftswahl für das Machtgleichgewicht

  • Interview: Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Plakatwand zeigt die Gesichter der sechs Kandidaten für die bevorstehenden iranischen Präsidentschaftswahlen im Zentrum Teherans.
Eine Plakatwand zeigt die Gesichter der sechs Kandidaten für die bevorstehenden iranischen Präsidentschaftswahlen im Zentrum Teherans.

Welche Bedeutung hat die Präsidentschaftswahl in der Islamischen Republik Iran, zum einen für die Menschen, zum anderen für das Regime?

Zuerst mal zum Regime, das ist einfacher: Die Stimmenthaltung war groß (bei den Parlamentswahlen, d. Red.). Wir kennen den Bruch zwischen der Regierung und den Iraner*innen. Die Beteiligung an den Wahlen ist stetig gesunken und die unterschiedlichen Regierungen haben es nicht verstanden, sich dieser Entwicklung anzupassen. Es ist vital für die Regierung, eine so hohe Wahlbeteiligung wie möglich zu erreichen. Die Tatsache, dass der verstorbene Präsident Ebrahim Raisi mit 52 Prozent Nichtwählern und 14 Prozent ungültigen Stimmen gewählt wurde, ist eine Ohrfeige für die Islamische Republik. Die Islamische Republik ist eine Volksrepublik, die durch eine Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten geschaffen wurde: die Revolution. Diese breite Unterstützung in der Bevölkerung ist ganz essenziell für ihre Legitimität.

Interview

Bernard Hourcade (geb. 1946) ist Geograf und emeritierter Forschungsdirektor am französischen Forschungszentrum für die iranische Welt (CeRMI). Als Ex-Direktor des Französischen Forschungsinstituts im Iran (IFRI) während der islamischen Revolution (1978–1993) gründete und leitete er das CNRS-Forschungsteam »Iranische Welt« (1993–2005). Seine Projekte entwickelte er häufig in Zusammenarbeit mit seinen iranischen Kollegen und konzentrierte sich auf die Beziehungen zwischen Politik, Territorium und Gesellschaft im Iran und die Geopolitik des Iran.

Und für die Menschen im Iran?

Man hat es bei den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini gesehen. Ein Teil der Bevölkerung sagt: Die Islamische Republik kann überhaupt nicht auf meine Fragen antworten, ich will ihren Sturz, ich will nichts mehr damit zu tun haben. Man kann die Wut begreifen. Aber die UdSSR ist nicht zusammengebrochen, weil es Demonstrationen in Turkmenistan gab, sondern weil im Inneren des sowjetischen Systems der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, die Dinge ins Rollen gebracht hat. Das heißt, ein politisches System kann sich nur bewegen, wenn es innenpolitische Kräfte gibt, die das System entweder verbessern, verändern oder zu Fall bringen. Das heißt, ob wir das wollen oder nicht und trotz der Zensur durch den Wächterrat, der die Entscheidung über die Zulassung von Kandidaten für die Präsidentschaftswahl trifft, die Wahlen im Iran sind ein sehr wichtiges Druckmittel der Bevölkerung.

Können Wahlen denn tatsächlich was verändern im Iran?

Trotz der Zensur und dem Ausschluss der Reformkandidaten gibt es eine Wahl im Iran. Man weiß, dass die Regierung 20 Prozent der Wähler in die Waagschale wirft, aber es gibt noch immer 80 Prozent der Stimmen, die recht frei fluktuieren. Die Frage ist, und darauf habe ich keine Antwort, ob diejenigen, die wollen, dass sich die Dinge ändern, sagen: Die Wahl ist nicht perfekt, aber es ist ein gutes Mittel, um die Dinge ein bisschen zu bewegen. Der Revolutionsführer, Ajatollah Ali Khamenei, ist 85 Jahre alt, offenbar bei bester Gesundheit. In diesem Fall wird oft gefragt, wer der nächste Revolutionsführer sein wird. Aber das ist überhaupt nicht die ausschlaggebende Frage. Keine Person im Iran hat die Kompetenz, die Qualität und die Erfahrung von Ali Khamenei. Er ist seit 45 Jahren an der Macht und kennt alle Rädchen der Islamischen Republik, sehr kompliziert, alle politischen Strömungen. Er ist der einzige Mensch, der diese Erfahrung, Kenntnisse und Autorität hat und in der Lage ist, dass alle sich mehr oder minder untereinander verstehen. Er kann Dinge anordnen, die dann ausgeführt werden. Der Schlüsselpolitiker, falls Khamenei in den nächsten zwei, drei Jahren sterben sollte, wird der neue Präsident der Islamischen Republik Iran sein, weil er der einzige Politiker sein wird mit politischer Legitimität durch breite Bevölkerungsschichten, um sich zu Wort zu melden. Und seine Wahl wäre niemals wichtiger gewesen. Es erscheint mir abwegig zu sagen: Die Wahl ist nur Kino, die zählt nicht.

Sie sagen, dass Ali Khamanei bei bester Gesundheit sei. Häufig liest man jedoch, er sei schwer krank?

Wenn man Khamenei im Fernsehen hört, hat er eine feste Stimme. Er hat Prostatakrebs, aber der ist unter Kontrolle. Mit 85 Jahren wächst ein Tumor nur sehr langsam. Aber ich bin nicht sein Arzt, ich weiß nichts darüber. Aber einfach nur zu sagen, er wird morgen früh sterben, und das wird seit 15 Jahren gesagt, das ist nicht der Punkt. Jeder Demograph wird ihnen sagen, dass er statistisch gesehen noch zehn Jahre leben kann. Khamanei ist der Sprecher multipler Diktaturen im Iran: die Diktatur der Revolutionsgarde, der Korruption, des Gesundheitswesens, es gibt verschiedene diktatorische Fraktionen im Iran. Und Khamanei ist der Diktator der Synthese vieler Diktaturen, wenn man so will. Es gibt nicht nur einen Diktator im Iran. Wenn Khamenei nicht mehr da ist, wird es gleichzeitig zehn konkurrierende Diktaturen geben. Er personifiziert die Synthese, sorgt dafür, dass die Maschine läuft. Wenn Khamenei stirbt, werden die zehn Diktaturen, zwischen denen er vermittelt, in Konflikt miteinander geraten. Daher hat die Rolle des nächsten Präsidenten ihre Wichtigkeit, weil er der einzige Politiker sein wird mit einer gewissen Legitimität.

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Wie beurteilen Sie die sechs zur Wahl zugelassenen Kandidaten? Nur einer von ihnen, Massud Peseschkian wird als sogenannter Reformer angesehen.

Das ist eine Zehn-Millionen-Dollar-Frage. Ich gebe Ihnen meine Kontonummer in der Schweiz, sie überweisen das Geld und danach antworte ich Ihnen. Spaß beiseite: Massud Peseschkian wurde als Kandidat für die Reformer ausgewählt, weil er der am wenigsten bekannte war, der am wenigsten reformorientierte, der am wenigsten politisch erfahrene. Im Moment ist er da und hat entschieden, den ehemaligen Außenminister Mohammad Dschawad Zarif mit in sein Team zu holen. Offensichtlich macht er seinen Job als mutmaßlich reformorientierter Präsidentschaftskandidat. Meiner Meinung nach hat er die Fähigkeit, alle Unzufrieden der Islamischen Republik um sich zu versammeln. Er war intelligent genug zu erklären: Ich stehe in der Kontinuität der Islamischen Republik und mit dem Revolutionsführer. Er hat die Großajatollahs in Ghom aufgesucht und gesagt: Ich bin ein guter Muslim und werde den Islam respektieren. Er macht also einen guten Wahlkampf. Aber damit er gewählt wird, braucht es eine hohe Wahlbeteiligung. Die große Frage ist, ob die Unzufriedenen, die in den vergangenen Jahren auf die Straße gegangen sind, wählen gehen oder nicht. Und ich spreche dabei nicht von den Teilnehmern an der Protestbewegung für Mahsa Amini; die sind von ihren politischen Inhalten sehr wichtig, aber eine quantitative Minderheit. Die Iraner, die 2019 im Iran demonstriert haben, die Menschen aus den Vorstädten und aus den Kleinstädten, die eine große Zahl von Wahlberechtigten repräsentieren, sind entscheidend: Sie sind gute Muslime, aber haben genug vom System. Sie fordern nicht, Nieder mit der Diktatur!, sondern wollen, dass sich was ändert. Bei den Demonstrationen 2019 wurden in drei Tagen Tausend von ihnen massakriert. Die Frage ist, ob diese Menschen zur Wahl gehen? Die Anhänger von Mahsa Amini und der »Frau-Leben-Freiheit«-Bewegung sind wichtig, aber sie haben keinen ausreichenden Rückhalt in breiten Bevölkerungsschichten. Hat Peseschskian Chancen, gewählt zu werden? Ich glaube eher nicht, weiß es aber nicht. Seit 15 Jahren kann ich nicht mehr als Forscher im Iran arbeiten und dort seriöse Untersuchungen und Umfragen machen.

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