18 Gelbe, zwei Rote: Das Kartenfestival von Hamburg

Moderne Geschichtsschreibung: Der wilde 2:1-Sieg der Türken über Tschechien markierte das Ende einer unterhaltsamen Gruppenphase

Hart, aber unfair: István Kovács zeigt Tschechiens Antonin Barak (hinten) seine zweite Gelbe.
Hart, aber unfair: István Kovács zeigt Tschechiens Antonin Barak (hinten) seine zweite Gelbe.

Es war vollbracht: Als sich die gesamte türkische EM-Delegation nach dem 2:1-Sieg über Tschechien am Mittwochabend rund um den Mittelkreis des Hamburger Volksparkstadions aufstellte und unter dem Jubel Zehntausender Türkei-Fans hüpfend den Achtelfinaleinzug feierte, war Historisches geschafft, wie Trainer Vincenzo Montella betonte, nachdem er sich aus der Jubeltraube auf dem Rasen gelöst hatte: »Wir haben heute Geschichte geschrieben. Die Türkei hat das Achtelfinale erreicht, nachdem ihr das dreimal zuvor nicht gelungen war«, verkündete er vor der versammelten Presse. »Ich bin sehr froh und sehr stolz auf meine Spieler.«

Historische Bedeutung hatte das Abschlussspiel der Gruppe F gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wurde im 36. Match dieses Turniers der Schlusspunkt unter die EM-Gruppenphase gesetzt. Alle Würfel sind gefallen, alle Achtelfinalspiele stehen fest. Zum anderen aber bescherte der wenig souveräne rumänische Schiedsrichter István Kovács dem Spiel noch weitere Rekorde: 18 Mal zeigte er die gelbe Karte, so viele hatte es noch nie in einer EM-Partie zuvor gegeben. Zusätzlich gab’s zweimal Rot (einmal in Folge einer Gelben).

Rekordschneller Platzverweis

Doch damit nicht genug: Referee Kovács sorgte bereits in der 20. Minute für eine Art Vorentscheidung, als er die anfangs drückende tschechische Elf auf eine Zehn schrumpfen ließ: Der Rumäne schickte den zuvor bereits wegen Trikothaltens verwarnten tschechischen Angreifer Antonín Barák nach seinem zweiten Foul mit Gelb-Rot vom Platz, für einen Tritt, der keinesfalls solch drastische Konsequenzen hätte nach sich ziehen dürfen.

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Auch dieser Pfiff war eine Handlung von historischer Tragweite: Der 29-Jährige vom AC Florenz, der fortan von der Bank dem aufopferungsvollen Kampf seiner Teamkollegen zuschauen musste, hält nun den fragwürdigen Rekord des schnellsten Platzverweises seit der ersten Austragung der Fußball-Europameisterschaft 1960.

In Match 36 zeigten sich auch einige wichtige Trends dieser 17. EM noch einmal recht deutlich: zum Beispiel Tore in der Nachspielzeit. Zehn Treffer gab es bei diesem Turnier schon nach Ablauf der regulären 90 Minuten, so viele wie noch nie zuvor. In Hamburg stand am Ende 90.+4 für den letzten Treffer auf dem Matchreport: Der eingewechselte Cenk Tosun, 33, geboren in Wetzlar, markierte nach einer schönen Einzelleistung den entscheidenden Treffer zum 2:1, der den Türken Gruppenplatz 2 sicherte und Tschechien das Aus bescherte.

Die zahlenmäßige Unterlegenheit der Tschechen auf dem Feld hatte den Großteil der 50 000 Zuschauer in der Hamburger Arena nach der 20. Minute frohlocken lassen. Doch die türkische Fan-Übermacht verzweifelte fast: Die Montanella-Truppe wusste weder mit dem Spielerübergewicht noch mit dem Quasi-Heimvorteil etwas anzufangen. Im Gegenteil: Die türkische Innenverteidigung Merih Demiral/Samet Akaydin blieb auch nach Gelb-Rot konstant wackelig und unorganisiert bei den wenigen tschechischen Kontern. Vorne liefen sich die türkischen Angreifer an der gegnerischen Abwehr fest.

Trainer Montanella hatte auf die Youngster gesetzt, wie so viele Coaches bei dieser EM. Besonders junge Akteure (Lamin Yamal, 16, Spanien) und besonders alte Spieler (Pepe, Portugal, 41) drücken diesem Turnier ihren Stempel auf. Die türkische Flügelzange am Mittwoch bestand aus zwei 19-Jährigen, Kenan Yıldız von Juventus Turin auf links, und Real-Madrid-Star Arda Güler auf rechts. Sie sollten mit Kapitän Hakan Çalhanoğlu (30) das Spiel organisieren.

Doch erst nach dem Seitenwechsel konnten diese Könner Tschechiens Abwehrriegel knacken. Der frühere HSV-Spieler Çalhanoğlu besorgte das gefeierte 1:0 mit einem straffen Schuss aus halblinker Position (51.), den Tschechiens überragender Kapitän Tomáš Souček aber nur eine Viertelstunde später nach einem weiten Einwurf von Vladimír Coufal per Nachschuss schon wieder egalisierte.

Plötzlich sogar Pressing

Tschechiens Tomáš Souček trifft zum 1:1.
Tschechiens Tomáš Souček trifft zum 1:1.

Nach dem 1:1 in der 66. Minute spielte Tschechien plötzlich sogar Pressing, mit einem Spieler weniger. Verkehrte Welt. Tschechiens Torwart Matěj Kovář lief bei Ballbesitz bis zu 30 Meter ins Feld, um dann lange Flanken auf die Stürmer zu spielen, während die Türken nur verhalten versuchten, aus mehr Ballbesitz auch einen Vorteil zu machen. Sie agierten zu ungelenk in dem Wissen, dass ja ein Remis sicher fürs Achtelfinale reichen würde.

Beide Trainer wechselten ein, was die Bank hergab, beide Teams kassierten Verwarnungen en masse – Tschechien am Ende sieben, die Türkei elf. Ausgerechnet die hochgelobte Kapitänsregel, die den Zuschauern bei diesem EM-Turnier schon etliche Nettominuten des Lamentierens erspart hat, weil nur die Spielführer mit dem Schiri diskutieren dürfen, sorgte in diesem Match allerdings für die Rekordflut. Schiedsrichter István Kovács verwarnte alles, was zuckte, auch jeden Meckerer auf der Ersatzbank, was Spieler und Trainer wiederum zusätzlich erhitzte. Als Kovács schließlich abpfiff, kassierte Tschechiens Stürmer Tomáš Chorý Rot, weil er sich noch mit den jubelnden Türken anlegte. Dem Angreifer vom FK Viktoria Plzeň war es egal, sein Team war ausgeschieden, die Türken stehen im Achtelfinale gegen Österreich.

Bis zum wilden Aufeinandertreffen von Tschechen und Türken hatte es im ersten Teil der EM nur einmal Rot gegeben – für den Schotten Ryan Porteous, der DFB-Kapitän İlkay Gündoğan im Eröffnungsspiel gefoult hatte. Womöglich wird dieser EM-Trend nicht weiter anhalten. Ab jetzt geht es in jedem Spiel um alles oder nichts. Nur der Europameister schafft es in die Geschichtsbücher.

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