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Linke rügt Umgang der Ampel-Koalition mit NS-Morden an Patienten
Scharfe Kritik an parteiübergreifendem Antrag für intensivere Aufarbeitung der »Euthanasie«-Verbrechen der Nazis
Eine halbe Stunde sollte der Bundestag am Donnerstagabend über einen Antrag diskutieren, den SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP vorgelegt hatten. Dessen Anliegen: die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes an Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, an psychisch Kranken und anderen für »lebensunwert« erklärten Personen zu »intensivieren«. Der Antrag sollte dann an den Kulturausschuss des Parlaments »zur weiteren Beratung überwiesen werden«.
Die Gruppe Die Linke im Bundestag war indes nicht eingeladen worden, den Antrag mitzutragen, und erhielt erst am Dienstag Kenntnis davon. Dies, obwohl sie bereits vor genau zwei Jahren einen eigenen Antrag zum Thema ins Parlament eingebracht und sich vergeblich um eine fraktionsübergreifende Initiative bemüht hatte. Die Linke war seinerzeit bereit gewesen, ihr Papier zugunsten eines gemeinsamen zurückzuziehen.
Ausgrenzungsrituale
Mithin betrachtet die Gruppe das Vorgehen der anderen Parteien als Affront und als ein Festhalten an einer überholten Ideologie der Ausgrenzung. Andererseits sieht sie in deren Papier einen »Schaufensterantrag«, in dem kaum Verbindliches festgehalten ist. Dieser Umgang mit dem Thema sei »unwürdig und beschämend«, erklärten Petra Pau und Jan Korte am Donnerstag.
In einer Stellungnahme begründen die Vizepräsidentin des Bundestages und der kulturpolitische Sprecher der Gruppe, warum Die Linke den Antrag weder unterstützen noch sich an der Debatte dazu beteiligen wolle. Die Ampel-Koalition werde dem Thema, also den von den Nazis euphemistisch »Euthanasie« (»schöner Tod«) genannten Mord- und Verstümmelungsprogrammen »nicht gerecht«, finden sie.
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Nach heutigen Schätzungen wurden von 1939 bis 1945 in Heil- und Pflegeanstalten 300 000 Patienten getötet, indem man sie verhungern ließ oder vergaste. 400 000 weitere Erkrankte wie auch »rassisch« und sozial unerwünschte Menschen wurden zwangssterilisiert. Die »Aktion T4«, in deren Rahmen die Morde geschahen, war das erste systematische Massenverbrechen des NS-Regimes und diente auch als Test für die Vernichtung der Juden. Benannt war sie nach der Anschrift der zuständigen NS-Behörde in der Berliner Tiergartenstraße 4.
Unerfüllte Versprechen
Vor 25 Jahren hatte der Bundestag beschlossen, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten. Zugleich war Deutschland damals die Verpflichtung eingegangen, »aller Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken«. Das »Holocaust-Mahnmal« in Berlin-Mitte wurde 2005 eingeweiht. Seit 2014 besteht der Informations- und Gedenkort für die Opfer der »Euthanasie«-Morde in Berlin-Tiergarten. Doch jenseits dessen gab es keine Förderung für eine systematische Erforschung der Verbrechen an Kranken und anderen Personengruppen.
Pau und Korte erinnern daran, dass Die Linke seit vielen Jahren dafür kämpfe, dass »den Opfern der aus politischen und volkswirtschaftlichen Gründen geplanten und vollendeten Ermordung« in den »fünf Mordzentren Deutschlands endlich ein würdiges und angemessenes Gedenken zuteilwird«, dass »dies auch Angehörige und Nachfahren einbezieht und die Opfergruppe angemessen im nationalen Gedenkstättenkonzept des Bundes berücksichtigt wird«. Dem sei aber »mitnichten so«, rügen sie.
Das aktuelle »unwürdige Spiel« der anderen Fraktionen werde man nicht mitmachen, stellen Pau und Korte klar. Vor allem aber sei deren Antrag »offensichtlich ohne die Expertise der Opferverbände, regionalen Initiativen, betroffenen Familien und an der Erforschung der Verbrechen arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengeklöppelt worden«. Anders lasse sich nicht erklären, dass zwar ein Projekt zur bundesweiten Archivierung von Patientenakten und Personalunterlagen der Täter initiiert, »aber kein generelles gesetzliches Kassationsverbot von historischen Quellen mit Bezug zu NS-Medizinverbrechen erlassen werden soll«. Ein solches Verbot müsse aber so schnell wie möglich kommen, um die Vernichtung weiterer Akten zu verhindern.
Als »problematisch« bezeichnen es die Linke-Abgeordneten, dass mögliche Empfänger von Forschungsgeldern bereits benannt werden. Zugleich werde im Antrag nicht verlangt, »dass Angehörige und Nachfahren einbezogen« werden. Vor allem aber werde Erinnerungspolitik mit der Formulierung »im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel« unter »Haushaltsvorbehalt gestellt«.
Dabei müssten die Forschungsaufträge in Zeiten, in denen behindertenfeindliche und faschistoide Einstellungen um sich greifen, verpflichtend sein. Pau und Korte erinnern daran, dass erst vor wenigen Wochen Bewohner eines Heimes der Lebenshilfe in Mönchengladbach mit Steinwürfen und der Botschaft »Euthanasie ist die Lösung« bedroht wurden.
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