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Biniam Girmays Tour-Erfolg: Sieg der zweiten Generation

Biniam Girmays historischer Tour-Erfolg darf nicht vergessen lassen, dass der Radsport Talente in Afrika besser fördern muss

  • Tom Mustroph, Turin
  • Lesedauer: 4 Min.
Biniam Girmay (M.) durfte beim Massensprint in Turin als Erster jubeln.
Biniam Girmay (M.) durfte beim Massensprint in Turin als Erster jubeln.

Im Ziel war Biniam Girmay überwältigt von den Gefühlen. Tränen ronnen aus seinen Augen, nur um sich mit dem Schweiß der Anstrengungen zu vermischen. »Als Junge habe ich immer davon geträumt, mal bei der Tour de France zu sein. Jetzt bin ich hier und gewinne auch noch. Das ist unfassbar«, meinte er, als er sich selbst wieder gefasst hatte. Der Eritreer dankte erst Gott, dann seiner Familie und seinem Team – eine im auch rhetorisch durchnormierten Profiradsport eher ungewöhnliche Reihenfolge. Und dann setzte er den entscheidenden Akzent für die Berichterstattung: »Das ist ein Sieg für ganz Afrika.«

Girmay ordnete seinen Erfolg als Mutmacher ein, so wie für ihn vor neun Jahren das Bergtrikot, das sein Landsmann Daniel Teklehaimanot während einiger Tourtage getragen hatte, ein Mutmacher für ihn gewesen sei. »Das hat uns gezeigt, dass wir Afrikaner bei der Tour de France dabei sein können, und dass wir dort etwas erreichen können. Das war ein enormer Ansporn. Wir Kinder und Jugendlichen haben auf dem Rad die Tour de France nachgestellt«, sagte Girmay einst zu »nd«, als er selbst schon erste Erfolge im Profigeschäft zu verzeichnen hatte. Auch jetzt ist anzunehmen, dass zahlreiche Kids in Asmara und Umgebung auf mehr als 2000 Meter Höhe den Massensprint auf den Straßen von Turin nachstellen werden.

Tom auf Tour

Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, begleitet diesen Sport weltweit seit mehr als 20 Jahren für »nd«.

Auch in Tigray in Äthiopien dürfte das der Fall sein, wo es Welay Hagos Berhe geschafft hat, einen Profivertrag zu bekommen. Von seinem Team Jayco Alula wurde er in diesem Jahr noch nicht zur Frankreichrundfahrt mitgenommen. Immerhin konnte der erst 22-jährige Kletterer bei der Tour de Suisse und der Tour of the Alps aber bereits sein Talent zeigen. Auch in Ruanda, das derzeit immerhin 13 Profis auf dem zweitklassigen Continental-Team-Niveau aufweist, und in Benin, wo eine interessante Fahrergeneration heranwächst, dürfte Girmays Sieg von Turin Flammen der Leidenschaft in afrikanischen Radsportlern entzündet haben. Denn der Eritreer fährt nicht nur mit – und landet gelegentlich einen Außenseiter-Coup – wie die Fahrer der Vorgängergeneration um Teklehaimanot. Nein, bei Klassikerrennen und Massensprints gehört Girmay seit zwei Jahren beständig zum Favoritenkreis.

Das ist eine neue Qualität. Sie ist dem enormen physischen Talent des Eritreers zu verdanken. Meriten sollten aber auch an seine Teams verteilt werden: Intermarché, wo er jetzt fährt, und Delko Marseille, das ihn vom Nachwuchsleitungszentrum des Weltverbands UCI in Aigle einst wegverpflichtet hatte.

Vor allem aber ist es Girmays eigener Professionalität zu verdanken. Damit überwindet er Nachteile. Noch immer könne er nur mit Dreimonats-Visa nach Europa reisen, erklärte sein Team. Rennkalender und Trainingslager müssen in diese Zeiträume gepresst werden. Gut, besondere Höhentrainingslager braucht er nicht. Seine Heimatregion liegt auf idealer Trainingshöhe dafür. Aber oft einen Kontinent entfernt von den eigenen Teamkollegen sein Training allein abzuspulen, setzt eine hohe Eigenmotivation voraus.

Nicht jedes der vielen Talente aus Afrika bringt das mit. Einheimische Trainer erzählten »nd« im Februar während der Tour du Rwanda, dass junge Fahrer teilweise nur dann zu den langen Trainingssessions kämen, wenn sie etwas Geld erhalten. »Wenn du kein Kind mehr bist, erwartet die Familie von dir, dass du dich um dich selbst kümmern und auch deine Eltern unterstützen kannst. Da ist immer Druck, und deshalb spielt Geld auch im Training eine Rolle«, sagt Jean-Pierre van Zyl, Radsporttrainer aus Südafrika.

Eine zweite Hürde ist, dass Spitzenfahrer, die in ihrer Heimat viele Rennen gewinnen, mental nicht damit klarkommen, in Europa erst einmal hinterherzufahren. Und auch durch den derzeitigen Jugendwahn im Radsport geraten afrikanische Talente in einen Nachteil. Denn welcher Scout, der U15- oder U17-Rennen in Europa aufsucht, kommt auch nach Afrika? Aber nur, wer mit 16 oder 18 Jahren den Sprung nach Europa schafft, hat später Aussichten auf eine Profikarriere. Damit Girmays Sieg tatsächlich zu einem Sieg für ganz Afrika werden kann, muss sich also auch strukturell einiges ändern im Radsport.

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