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Labour in den Startlöchern
Bei den britischen Unterhauswahlen steuern die Konservativen von Premier Rishi Sunak auf eine historische Niederlage zu
In den letzten Tagen vor der Wahl am Donnerstag richtete sich Keir Starmer noch einmal mit warnenden Worten an seine Anhänger. Auf keinen Fall dürfe Labour »den Fuß vom Gaspedal nehmen«, sagte er am Wochenende. Ein Sieg sei nicht garantiert, jetzt gelte es nochmal, alles zu geben. Andernfalls riskiere das Land eine weitere Tory-Regierung. Dazu wird es nicht kommen, das weiß auch der Labour-Chef. Wie hoch der Sieg tatsächlich ausfällt, wird sich zeigen – aber dass Labour die nächste Regierung stellt, scheint unausweichlich.
Premierminister Rishi Sunak hatte Ende Mai vorgezogene Neuwahlen für den 4. Juli ausgerufen. Er hätte sich noch bis Januar 2025 Zeit lassen können, aber in einem Anflug von Selbstbewusstsein – manche würden sagen: Selbstüberschätzung – zog er den Termin vor. Der Entscheid kam für viele auch aus den eigenen Reihen völlig überraschend. Seine Tory-Partei lag damals in Umfragen rund zwanzig Prozentpunkte hinter der oppositionellen Labour-Partei. In dieser Situation Neuwahlen auszurufen, war ein enormes Risiko. Sunak hoffte wohl, dass er das Blatt noch würde wenden können.
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Doch die Wahlkampagne der Tories war voll von Patzern, und die Umfragewerte haben sich kaum bewegt. Meinungsforscher sind sich einig, dass die Tories auf eine historische Niederlage zusteuern. Das Institut Survation publizierte am Mittwoch die Ergebnisse einer umfassenden Umfrage: Demnach könnte Labour monumentale 484 Unterhaussitze (von insgesamt 650) gewinnen; die Tories würden auf mickrige 64 Mandate zusammensacken. Es wäre ein beispielloser Triumph Labours, und eine tiefe Schmach für Sunak und seine Tories.
Für die Unbeliebtheit der Konservativen gibt es eine Reihe von Gründen. Die Partei war 14 Jahre lang an der Macht. In dieser Zeit haben sich die Lebensumstände der meisten Briten deutlich verschlechtert. Ein paar Beispiele: Die Wartelisten im Gesundheitsdienst sind auf Rekord-Länge angewachsen. Die Kinderarmut hat dramatisch zugenommen, die Zahl der Essensausgaben für mittellose Haushalte ist seit 2010 regelrecht explodiert. Der Bau von Wohnraum hinkt weit hinter der Nachfrage her; das hat dazu beigetragen, dass Eigenheime für die jüngeren Generationen immer unbezahlbarer geworden sind. Unterdessen stagnieren die Löhne der Normalverdiener – eine Analyse des Instituts Resolution Foundation ergab, dass die einkommensschwächsten Briten rund 20 Prozent ärmer sind als vergleichbare Bevölkerungsgruppen in Deutschland und Frankreich.
So blickt man im Hauptquartier der Opposition schon längst nach vorne, die Vorbereitungen auf die Zeit an den Schalthebeln der Macht laufen seit vielen Monaten. Es steht viel Arbeit an, und es könnte schon bald brenzlig werden. Im Frühjahr fertigte Keir Starmers Stabschefin Sue Gray – eine erfahrene ehemalige Staatsbeamtin – eine Liste der größten Krisen an, die bald einschlagen könnten.
Unter den Tories haben sich die Lebensumstände der meisten Briten deutlich verschlechtert.
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Das Dokument, das die »Financial Times« im Mai publik machte, wird intern »Sue’s shit list« genannt. Auf der Liste stehen der mögliche Kollaps des Wasserversorgers Thames Water, die Geldnot der Universitäten, die Überbelegung in den Gefängnissen, die Lohnverhandlungen im öffentlichen Sektor sowie die Finanzierungslücke im Gesundheitsdienst NHS.
Jede dieser Krisen für sich genommen ist ein größeres Problem – sollten mehrere gleichzeitig auftreten, wäre Starmers Team plötzlich unter erheblichem Druck. Die »Flitterwochen«, also die Schonfrist, während der sich Wähler und Medien gegenüber der neuen Regierung großzügig zeigen, dürfte ungewöhnlich kurz sein.
Während des Wahlkampfs hat die sozialdemokratische Labour-Partei bereits durchblicken lassen, welche Prioritäten sie für die ersten Tage und Wochen setzen wird. Es ist, zumindest in Teilen, eine demonstrative Abkehr von den Tory-Jahren. So dürfte der Abschiebepakt mit Ruanda bald Geschichte sein. Jahrelang hat das Abkommen mit Kigali, gemäß dem irreguläre Einwanderer ins zentralafrikanische Land deportiert werden sollten, für hitzige Kontroversen gesorgt – aber Starmer hat angekündigt, den Plan über Bord zu werfen, und zwar »an Tag eins«.
Labour ist auch entschlossen, den langwierigen Arbeitskampf im Gesundheitsdienst zu beenden. Wes Streeting, der voraussichtlich nächste Gesundheitsminister, wird sich zu Gesprächen mit der British Medical Association hinsetzen, um die Assistenzärzte zu einem Ende ihres Streiks zu bewegen – wohl mithilfe einer Lohnerhöhung. Auch wird erwartet, dass Angela Rayner, die stellvertretende Labour-Chefin, einen neuen Plan für den Wohnungsbau vorlegen wird, um die Krise der exorbitanten Immobilienpreise abzuschwächen. Und schließlich dürfte der öffentliche Gesundheitsdienst endlich eine kräftige Finanzspritze erhalten.
Das Land wird nicht lange warten müssen, um darüber hinaus detailliertere Pläne für das kommende Jahr zu sehen. Am 17. Juli erfolgt Starmers erste King’s Speech, also die feierliche Verkündigung des Regierungsprogramms. Dann wird Labour erstmals seine Gesetzesvorhaben umreißen. Schon am folgenden Tag hat Starmer die erste Gelegenheit, sich mit seinen europäischen Partnern auszutauschen: Im Blenheim Palace im ländlichen England wird er die Regierungschefs der Europäischen Politischen Gemeinschaft empfangen. In Europa hofft man, dass es in der Beziehung zwischen EU und Großbritannien einen Neustart geben wird.
Was die langfristigen Pläne Labours anbelangt, insbesondere in der Wirtschaftspolitik, ist schon vor dem erwarteten Regierungswechsel Kritik laut geworden. In einem Versuch, fiskalpolitische Verantwortung zu demonstrieren, hat Starmer eine eher geringfügige Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in Aussicht gestellt; Steuererhöhungen für »arbeitende Leute« werde es nicht geben. Aber das Institute for Fiscal Studies (IFS), ein renommiertes Forschungsinstitut, hat gewarnt, dass die öffentlichen Dienstleistungen in einem so miserablen Zustand sind, dass eine massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben erforderlich sei.
»Es wird entweder höhere Steuern oder schlechtere öffentliche Dienstleistungen« geben, sagte IFS-Direktor Paul Johnson Mitte Juni. Diese Tatsache müsse Labour den Wählern früher oder später klarmachen.
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