Die größte Enttäuschung der EM steht im Halbfinale

Nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen die Schweiz muss England seinen Trainer noch länger ertragen

  • Alexander Ludewig, Düsseldorf
  • Lesedauer: 4 Min.
England kann Elfmeterschießen: Erleichterung und Freude waren groß nach dem schwachen Spiel gegen die Schweiz.
England kann Elfmeterschießen: Erleichterung und Freude waren groß nach dem schwachen Spiel gegen die Schweiz.

Die Frage, ob Gareth Southgate im Falle einer Niederlage gerade sein letztes Spiel erlebe, fand Keir Radnedge keineswegs anmaßend. Der britische BBC-Journalist und Autor viel gelesener Fußballbücher antwortete ohne zu zögern: »Yes!« Es kam am Sonnabend bekanntlich anders. Einer erneut erschreckend schwachen englischen Mannschaft gelang gegen gute Schweizer noch der Ausgleich, den Radnedge auf Pressetribüne mit einem wohlwollenden Kopfschütteln registrierte. Nach dem Sieg im Elfmeterschießen stehen die »Three Lions« im Halbfinale dieser Europameisterschaft – und England muss seinen Trainer wohl noch länger ertragen.

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Merkwürdige Trainer-Medien-Beziehung

Sieht man den Fußball als reinen Ergebnissport, gibt es keine Argumente gegen Southgate. Und das schmückte Englands Trainer mit reichlich Pathos aus: »Die Spiele bei diesem Turnier sind nationale Großereignisse mit immensem Druck – und wir sind mittendrin.« Als er zur Pressekonferenz gekommen war, nahm er erstmal einen langen Schluck aus der Wasserflasche. Er wollte wohl in der Lage sein, flüssig zu antworten. Doch weil ihn und die mitgereisten britischen Journalisten ganz offensichtlich eine merkwürdige Beziehung verbindet, kam er nur einmal in Verlegenheit. Die Fragen der heimischen Presse zielten allein auf die neue Qualität im Schießen von Elfmetern. Southgate sprach diesbezüglich von »neuen Maßnahmen«, die er nach dem verlorenen Duell vom Punkt im Finale der EM vor drei Jahren gegen Italien ergriffen habe, die es den Spielern nun ermöglichen, besser mit dem Druck umzugehen.

Dennoch bleibt England die größte aller Enttäuschungen dieser EM. Die Kritik aus der Heimat ist massiv. Als sich ein deutscher Journalist am Sonnabend vor Ort wagte, die Spielweise in den bisherigen Partien gegen Serbien (1:0), Dänemark (1:1), Slowenien (0:0), Slowakei (2:1) und nun gegen die Schweiz zu hinterfragen, antwortete Southgate mit einer Gegenfrage: »Sind Sie sicher, dass sie nicht doch aus England kommen?« Mehr wollte der Trainer dazu ausdrücklich nicht sagen.

Ein englischer Lichtblick

Zwei glückliche Siege, drei Unentschieden, fünf schlechte Spiele – so kann man unter die besten vier Mannschaft Europas kommen. Im Viertelfinale stand es nach 120 Minuten durch Treffer des Schweizers Breel Embolo und Bukayo Saka 1:1. Englands Torschütze wurde zum Spieler des Spiels gewählt. Nach fünf sehr souverän verwandelten Elfmetern – und einem von Englands Torwart Jordan Pickford gehaltenen – sagte er: »Wir haben die besten Elfmeterschützen und sind sehr stolz auf uns.« Der Flügelspieler von Arsenal London, in den Spielen zuvor ebenfalls nur mit enttäuschenden Leistungen aufgefallen, war diesmal der Lichtblick im englischen Team. Beseelt davon blickte er voraus: »Wir haben jetzt zwei Spiele vor uns, die unser leben verändern können.«

Am kommenden Mittwoch geht es in Dortmund um den Einzug ins Endspiel. Um auch das Halbfinale gegen die Niederländer siegreich gestalten zu können, »müssen wir es besser machen«, meinte Saka. Schlecht gestartet in die Europameisterschaft war auch der kommende Gegner. Nach einer beschwerlichen Gruppenphase, entpuppen sich die Niederländer mehr und mehr als Turniermannschaft – nach einem 3:0 im Achtelfinale gegen Rumänien und dem 2:1-Sieg am Samstagabend gegen ein starkes türkisches Team gehen sie als Favoriten ins Halbfinale.

Kritik an Taktik und System

Das englische Tor durch Saka war wieder eine Einzelaktion. Der jeweils von Southgate aufgestellten Elf ist es bislang nie gelungen, einen Gegner mannschaftlich unter Druck zu setzen. So kam Starstürmer Harry Kane gegen die Schweizer in fast 120 Minuten nur auf 26 Ballkontakte. Unerklärlich ist das angesichts einer eigentlich stark besetzten Offensive mit Kane, Saka, Jude Bellingham und Phil Foden nicht. Es liegt an Taktik und System. Und weil dies in der Verantwortung des Trainers liegt, sind die Forderungen in der Heimat nach dessen Ablösung durchaus berechtigt. Die Umsetzung ist mit dem Halbfinaleinzug wiederum etwas unwahrscheinlicher geworden. England muss das träge, passive und harmlose Spiel ihres Teams wohl noch länger ertragen. Und mit Southgate einen Nationaltrainer der seine Mannschaft am Sonnabend allen Ernstes mit Spanien verglich und bilanzierte: »Wir haben sehr gut gespielt.«

Die englischen Anhänger haben ihre Ansprüche mittlerweile angepasst. Im Gruppenspiel gegen Dänemark hatten sie ihr Team noch mit Pfiffen verabschiedet und das Stadion nach dem Abpfiff fluchtartig verlassen. Nun ertragen sie die Leistungen halbwegs ruhig, feiern den Erfolg und sich selbst – im Stadion und den Innenstädten. Während der Gruppenphase hatten sie Frankfurt am Main erobert, jetzt steigen die großen Partys der englischen Fans in Köln. Von dort machen sich Tausende am Mittwoch dann in Richtung Dortmund auf.

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