Kurdische Autonomieregion: Schleichende Landnahme

Die türkische Regierung hat eine großangelegte Militäroperation im Nordirak gestartet

  • Tim Krüger
  • Lesedauer: 6 Min.
Menschen auf der Abbasid- oder Dalal-Brücke in der Stadt Zakho in der nordirakischen autonomen Region Kurdistan nahe der türkischen Grenze
Menschen auf der Abbasid- oder Dalal-Brücke in der Stadt Zakho in der nordirakischen autonomen Region Kurdistan nahe der türkischen Grenze

Immer wieder zerreißen heftige Detonationen die Stille der Nacht. Das Knattern der türkischen Helikopter raubt den Menschen den Schlaf. Flugzeuglärm erfüllt den Himmel über den kurdischen Gebieten des Nordirak. In der größten Luftoperation seit Beginn des Jahres hat die türkische Luftwaffe in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli nach eigenen Angaben mindestens 37 Ziele in der Autonomieregion Kurdistan bombardiert. »Höhlen, Unterstände, Bunker, Lagerhäuser und Einrichtungen, die von der separatistischen Terrororganisation genutzt werden«, sollen laut Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums bei den Bombardments zerstört worden sein.

Vor allem die Bergregionen Metîna, Garê, Xakurkê sowie das Kandilgebirge wurden besonders heftig getroffen. Doch auch das über 200 km von der türkischen Grenze entfernte Asos-Gebirge nahe der südkurdischen Metropole Suleimanieh wurde von Explosionen erschüttert. Seitdem die türkischen Streitkräfte im April diesen Jahres, ihre Angriffe gegen vermeintliche oder tatsächliche Ziele kurdischer Guerillakräfte im Nordirak ausgeweitet haben, eskaliert die Situation zusehends. Auch auf dem Boden rückt die türkische Armee weiter vor und begann Mitte Juni mit einer neuen Offensive.

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Es sind meist nur verwackelte Handyvideos, die ein Zeugnis des türkischen Vormarsches im Nordirak liefern können. Seit Tagen machen die Aufnahmen in den sozialen Medien die Runde und werden tausendfach geteilt. Kolonnen türkischer Panzerfahrzeuge schlängeln sich durch Straßen der nordirakischen Stadt Amediye. Patrouillen türkischer Soldaten durchkämmen auf der Suche nach Guerillakämpfern nun auch Dörfer und Städte. Laut Angaben der lokalen Nachrichtenagentur RojNews sollen die türkischen Streitkräfte seit dem 22. Juni über 300 gepanzerte Fahrzeuge und mindestens 1000 weitere Soldaten in die ländlichen Gebiete rund um die Stadt Amediye im Gouvernement Dohuk, verlegt haben.

Amediye kann nicht nur eine Geschichte von über 5000 Jahren Siedlungsgeschichte vorweisen, sondern verfügt auch über eine äußerst strategische Lage. Die Kleinstadt erhebt sich auf einem Hochplateu über eine Reihe von Tälern und Hügellandschaften, die das nördlich gelegene Bergmassiv Metîna von den sich wenige Kilometer südlich erstreckenden Garê-Bergen trennen. Metîna ist seit 2022 Schauplatz heftiger Gefechte zwischen der türkischen Armee und Guerillaverbänden der PKK und weiterhin hart umkämpft. Das stark bewaldete und schwerzugängliche Garê-Gebirge gilt als strategisch wichtiges Gebiet für Stützpunkte der Volksverteidigungskräfte HPG, wie die offizielle Bezeichnung der PKK-Guerilla lautet. Schon im Februar 2021 versuchte die türkische Armee in einer gescheiterten Luftlandeoperation, das Gebiet unter Kontrolle zu bringen.

»Der Plan ist größer als wir Anfangs dachten,« erklärt Rêbîn Karim, gegenüber dem »nd«. Der Journalist und Menschrechtsaktivist lebt und arbeitet in der Autonomieregion Kurdistan und verfolgt die türkischen Angriffe seit dem ersten Tag genauestens. »Angesichts der großen Anzahl von Truppen, schwerem Gerät, Panzern und Artillerie sieht es danach aus, als würden sie versuchen, in den Süden vorzustoßen und Garê zu besetzen«, meint Karim mit Blick auf die jüngsten türkischen Truppenbewegungen. Besonders brisant sei, dass die türkische Armee offensichtlich dazu übergegangen sei, Kontrollposten an den Verbindungsstraßen zwischen den Städten und Dörfern zu errichten.

»Sie kontrollieren dort illegalerweise irakische Bürger. Unter dem Vorwand, die Zivilisten vor den Gefechten zu schützen, vertreiben sie die Menschen aus ihren Häusern und lassen sie dann nicht wieder zurückkehren«, schildert Karim die Situation. Das türkische Verteidigungsministerium dementierte zunächst, dass ihre Truppen 35 Kilometer hinter der Grenze, innerhalb des irakischen Territoriums, Kontrollposten unterhalten würden. Am 28. Juni jedoch veröffentlichte ein Reporter des US-Senders Voice of America Videoaufnahmen, die einen der Checkpoints zeigen sollen. Für Karim sind die Kontrollposten ein weiterer Beweis dafür, dass es der Türkei, nicht um die »Grenzsicherung« und den Kampf gegen die PKK, sondern vielmehr um die langfristige Besatzung der kurdischen Gebiete des Nordiraks gehe.

Laut der NGO Community Peacemaker Teams (CPT) soll die türkische Armee zwischen den Dörfern Kani Balave und Babire Ausweis- und Fahrzeugkontrollen durchführen. Die NGO ist mit ihren Teams in den betroffenen Gebieten und berichtet seit mehreren Jahren über die Auswirkungen der türkischen Operationen auf die Zivilbevölkerung, sammelt Informationen und Beweise über mögliche Kriegsverbrechen. »Seit Anfang des Jahres konnten wir über 1076 Angriffe mit Flugzeugen oder Artillerie verifizieren. Allein seit Beginn der jüngsten Offensive, Mitte Juni, waren es mindestens 212«, sagt Julian Floyd Bil gegenüber dem »nd«. Floyd Bil ist Menschenrechtsbeauftrager der Nichtsregierungsorganisation CPT und recherchiert derzeit in den betroffenen Regionen des Nordirak.

»Seit 1991 sind mindestens 174 Zivilisten durch Angriffe von Kampfjets ums Leben gekommen und allein seit 2015 haben Drohnenschläge das Leben von 72 Zivilisten gefordert«, ergänzt Floyd Bil. Nach dem jüngsten Großangriff erklärte das türkische Verteidigungsministerium, dass man »alle Vorsichtsmaßnahmen« getroffen habe, »um sicherzustellen, dass unschuldige Menschen, (…) historische und kulturelle Güter und die Umwelt nicht geschädigt« würden. Floyd Bil widerspricht dieser Darstellung und hält fest, dass sich »bei den Angriffen (…) ein bis heute fortsetzendes Muster« zeigen würde. »Auch in der jüngsten Operation wurden zivile Siedlungsgebiete bombardiert und durch die ausgelösten Brände wurde ein Großteil des landwirtschaftlich genutzten Landes zerstört.«

Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind verheerend: »Allein seit 2015 wurden durch diese Angriffe mindestens 160 Dörfer entvölkert. Derzeit sind 602 Dörfer direkt von den Angriffen betroffen und gefährdet«, schildert Julian Floyd Bil die Situation in den umkämpften Gebieten. Viele fürchten daher eine weitere Ausweitung der militärischen Besatzung. Sollte es der Türkei gelingen, die Gebiete in Metîna und Garê zu erobern, wären bereits 70 bis 75 Prozent der Provinz Dohuk in türkischer Hand. Vor wenigen Tagen erst berichtete der Gouverneur der weiter östlich gelegenen Provinz Sîdekan gegenüber der Nachrichtenagentur Rudaw, dass mittlerweile 46 Prozent des Territoriums seiner Provinz unter türkischer Kontrolle sind. Es ist nicht zuletzt die stillschweigende Zustimmung der internationalen Gemeinschaft, die die Regierung Erdoğan motiviert, sich immer weitere Regionen unter den Nagel zu reißen.

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