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Reintegration in Neukölln: Aufgefangen wie ein Seiltänzer
Das Neuköllner Übergangswohnheim hilft bei der Reintegration nach psychischen Erkrankungen
Bei den meisten ist bloß Grün zu sehen, nur an vereinzelten größeren Pflanzen sind bereits knallgelbe Blüten sichtbar. Bamdad Oskoui steht neben seinen Sonnenblumen, sein Stolz ist schwer zu überhören. »Das sind Riesensonnenblumen, sie werden 2,50 Meter hoch«, sagt er. Es sei sein Wunsch gewesen, Sonnenblumen anzubauen. »Ich wollte sie in der Größe mal sehen, wie die so wachsen.« Als sich Oskoui noch genauer mit Sonnenblumen beschäftigte, stellte er fest, dass es jede Menge anderer Sorten gibt, also nicht nur gelb und schwarz, sondern auch rosé oder rot. Die bunten Sonnenblumen habe er daraufhin ebenfalls ausgesät, momentan sind sie noch klein und grün.
Der Gemeinschaftsgarten, in dem Bamdad Oskoui steht, gehört zum Übergangswohnheim des Unionshilfswerks für psychisch kranke Straftäter*innen. Die Menschen sind hier für zwei bis drei Jahre untergebracht, nachdem sie aus dem Maßregelvollzug oder der Psychiatrie entlassen wurden. Die Bewohner*innen wohnen in Wohngemeinschaften zusammen; insgesamt gibt es fünf Wohngruppen mit je sechs Einzelzimmern, dazu Küche, Bad und Wohnzimmer.
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Im dritten Stock der Sozialeinrichtung sitzen einige Bewohner*innen zusammen am Frühstückstisch, auch bereit für Gespräche. Ein Bewohner zeigt sein eingerichtetes Zimmer mit Flaggen und bunten Malereien an den Wänden. Leider ist er schwer zu verstehen, auch ist unklar, ob er die Fragen richtig verstanden hat.
Bamdad Oskouis Sätze sind deutlich, er drückt sich präzise aus. Er wohnt im ersten Stock, lebt seit einem Jahr hier, erzählt er. Dies ist seine zweite Gartensaison. Neben der »Gartengruppe«, wie er sie nennt, ist Oskoui auch Teil der sogenannten »Reno-Gruppe«, kurz für Renovierung. Einiges an Arbeit fällt in der Einrichtung selbst an; manchmal mache die Gruppe aber auch einen Ausflug, wenn irgendwo ein kleines Büro gestrichen werden soll. Die Renovierungen seien für ihn kein Thema. »Ich hab 20 Jahre lang als Maler gearbeitet«, erklärt Oskoui. »Für mich ist das nicht wirklich Arbeit.«
Viele Bewohner*innen schaffen es nicht, Mitglied zweier Gruppen zu sein. Manchen ist es zu viel Zeitaufwand, andere sind zu krank. Oskoui hingegen ist trotz zwei Gruppen »unterfordert«, wie er es beschreibt. Er habe bis zu seinem Psychiatrieaufenthalt stets ununterbrochen gearbeitet und sei es nicht anders gewohnt. Er wisse heute gar nicht, wohin mit seiner Zeit, deswegen hält er sich mit Garten und Malerei gerne auf Trab.
Doch die pausenlose Beschäftigung in seinem früheren Job hatte ihre Kehrseite: Nach 20 Jahren spürte der Maler Anzeichen von Burn-out, also Überlastung. »Manche sagen, hättest du doch deinen Job gewechselt«, erzählt er. Doch das sei nicht so einfach, wenn man erst mal zehn Jahre fest für ein Unternehmen tätig ist. Sein Drogenkonsum, den er zuvor nur für Spaß und Freizeit eingenommen hatte, nahm überhand. Er betäubte sich, um sein Arbeitspensum zu schaffen. Er habe den Stress mit Drogen kaschieren wollen, habe sich künstlich fit gehalten. Dann aber glaubte er, Schüsse in seinem Haus zu hören: »Da hat mir mein Gehirn einen Streich gespielt. Ich hätte niemals gedacht, dass so was möglich ist.« Sein Bruder habe ihn schließlich in die Psychiatrie eingewiesen.
Heute geht es ihm wieder gut, die Warnvorstellungen ebbten nach zwei, drei Wochen wieder ab. Oskoui ließ seine Drogenvergangenheit hinter sich, das gilt aber nicht für alle Bewohner*innen des Wohnheims.
»Der Wunsch ist ein drogenfreies Haus«, erklärt Frau Eichenauer, eine Betreuerin und Mitarbeiterin des Unionshilfswerks in Neukölln. Ihren Vornamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. »In der Realität haben Drogen aber über einen langen Zeitraum bei sehr vielen Leuten eine Rolle eingenommen«, sagt sie. Deswegen sei es schwierig, alle Bewohner*innen davon zu lösen. Wichtig sei aber, dass die Gemeinschaftsräume drogenfrei bleiben, also »clean« seien, wie Eichenauer es ausdrückt.
Das ist beim Maler Bamdad Oskoui durchaus der Fall. Seinen Job hat er trotzdem verloren, in seine Wohnung wollte er auch nicht mehr zurück. Nach ein paar Monaten Krankenhaus kam er in die Übergangswohnung in Neukölln. Mit 44 Jahren gehört er zu den älteren Bewohner*innen.
Da die Reintegration in den Arbeitsmarkt ein wichtiger Aspekt der Einrichtung ist, liegt die Altersbeschränkung der Bewohner*innen bei 19 bis 55 Jahren. Nicht alle schaffen es zurück in den Arbeitsmarkt, erklärt Eichenauer. Doch fast alle, die in diesem Haus sind, haben irgendeine Form der Beschäftigung finden können, fügt sie hinzu. Die meisten sind in Werkstätten tätig, oft auch ehrenamtlich. »Wir wollen Teilhabe ermöglichen«, sagt Eichenauer. »Die Menschen hier sollen in Bewegung und unter andere Menschen kommen.« Der primäre Fokus sei es, dass sie »den Weg zurück finden, in das Leben, das sie vorher überwiegend hatten«.
»Ich wurde aufgefangen wie ein Seiltänzer.«
Marcus Zeidler Ehemaliger Bewohner der Sozialeinrichtung des Unionhilfswerkes
Ein ehemaliger Bewohner, der es zurück in das Leben schaffte, wie Eichenauer es sich wünscht, ist Marcus Zeidler. Er arbeitet ehrenamtlich in einem Altersheim in Treptow. Drei Jahre lebte er im Übergangswohnheim Neukölln, mittlerweile ist das schon über 20 Jahre her. Seit 21 Jahren lebt Zeidler betreut in einer eigenen Wohnung. »Meine erste eigene Wohnung«, wie er sagt. Seit etwa zwei Jahren habe er sogar einen Balkon, der nachträglich angebracht wurde. Die Wohnung muss Zeidler aber vermutlich nächstes Jahr wieder verlassen, da die neue Besitzerin Eigenbedarf angemeldet hat. Für seine Zeit in der Sozialeinrichtung des Unionhilfswerks hat Zeidler nur positive Worte übrig. »Es ist die beste Einrichtung, in der ich je war, und dabei möchte ich auch bleiben«, sagt er. Als er Hilfe brauchte, wurde ihm diese angeboten. Er habe sich geborgen gefühlt: »Ich wurde aufgefangen wie ein Seiltänzer.«
Zurück im Garten, zeigt Oskoui noch weitere Pflanzen: In der Mitte diverse Zucchini, einige tragen sogar Früchte und sehen essreif aus. Daneben Tomatenpflanzen, allerdings sind diese allesamt noch grün. Die Zucchini werde er bald schon pflücken, vor allem dürften sie nicht allzu groß werden, sonst seien sie geschmacklos und wässrig. Die Arbeit sei mühsam, aber es lohne sich. Der Garten brauche nur viel Zuwendung und Aufmerksamkeit.
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