Bürgergeld: Ideologische Mittellosigkeit

Die Debatte über das Bürgergeld offenbart, wie orientierungslos die deutsche Arbeitspolitik ist

Kürzungen des Bürgergelds erhöhen den Druck auf mittellose Menschen, irgendeine Arbeit anzunehmen. Extrem Reiche, die ihren Unterhalt aus ihrem Vermögen bestreiten, spüren davon nichts.
Kürzungen des Bürgergelds erhöhen den Druck auf mittellose Menschen, irgendeine Arbeit anzunehmen. Extrem Reiche, die ihren Unterhalt aus ihrem Vermögen bestreiten, spüren davon nichts.

Respekt, Vertrauen, Sicherheit. Mit diesen Schlagworten stellte Bundearbeitsminister Hubertus Heil (SPD) 2022 das Bürgergeld vor. Das Prestigeprojekt der Sozialdemokratie sollte ein Zeitalter des starken Sozialstaats einläuten. Zwei Jahre später hat sich die Debatte gedreht – heute diskutiert die Ampel-Regierung über immer strengere Sanktionen, zum Teil härter, als sie im verschrienen Hartz IV galten. Und das, obwohl es bisher wenige angekündigte Erleichterungen der Sozialreform vom Koalitionspapier in die Realität der Jobcenter geschafft haben. Was ist passiert?

Im Rahmen des neuen Wachstumspakets kündigten Bundeskanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck vergangene Woche an, Anreize für Arbeit setzen zu wollen. Darunter fällt ein höheres Nettoeinkommen für Langzeitarbeitslose nach Bürgergeldbezug, vor allem aber Verschärfungen in der Regelung der Sozialleistung.

Wer eine »zumutbare Arbeit« ohne triftigen Grund ablehnt, eine Eingliederungsmaßnahme verweigert oder Schwarzarbeit nachgeht, den erwarten künftig Kürzungen von 30 Prozent auf drei Monate. »Zumutbar« ist laut neuer Regelung zum Beispiel ein Arbeitsweg von drei statt wie bisher zweieinhalb Stunden. Es ist die Verschlechterung eines bereits niederschmetternden Status Quo, befindet Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei. Der Verein unterstützt Menschen, denen das Jobcenter Leistungen gekürzt oder nicht bewilligt hat. »Das Bürgergeld ist bereits ein Kontrollapparat«, sagt sie.

»Das Bürgergeld ist bereits ein Kontrollapparat«

Helena Steinhaus Verein Sanktionsfrei

Auch bisher konnten Bürgergeldbeziehende eine Stelle nicht einfach aufgrund eines Arbeitswegs ablehnen. Für beinahe alle im Papier des Wachstumspakets diskutierten Fälle gibt es bereits Strafen. So wird bei Schwarzarbeit beispielsweise das verdiente Geld zurückgefordert und die Ordnungswidrigkeit nach dem Strafgesetzbuch geahndet. Das zieht normalerweise ein Bußgeld nach sich.

»In der Gesellschaft wird der Eindruck erweckt, bisher wäre alles einfach gewesen und jetzt würde man die Stellschrauben mal ein bisschen enger drehen«, sagt Steinhaus. Das entspreche nicht der Realität. Der Verein Sanktionsfrei existiert seit 2015 und strengte im vergangenen Jahr etwa 400 Rechtsfälle gegen Jobcenter an.

Seit Hartz IV habe sich die Situation weder für den Verein noch für Betroffene verbessert, sagt Steinhaus. Versprechen wie eine verständlichere Amtssprache seien noch nicht umgesetzt, der Fokus auf Qualität und Qualifizierung durch die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs noch nicht in der Praxis angekommen. Immer noch sei es mühsam, Sozialhilfe zu beantragen, immer noch sei das Geld zu wenig. Die Bezüge wurden zwar erhöht, tatsächlich aber an die Inflation angepasst.

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Woher stammt also die Erzählung, Bürgergeldbeziehende hätten es bisher einfach gehabt? Und warum trägt ein sozialdemokratischer Kanzler sein eigenes Prestigeprojekt zu Grabe? Offenbar versucht sich die Ampel daran zu orientieren, was sie als gesellschaftliche Stimmung wahrnimmt. Das ist, unter anderem geschürt durch den Europawahlkampf der CDU, eine Neiddebatte. Die Christdemokraten kündigten bereits an, das Bürgergeld auch im nächsten Wahlkampf zum Thema zu machen.

In einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Kooperation mit der Universität Bochum im April schlugen Jobcenter-Angestellte in eine ähnliche Kerbe und forderten mehr Sanktionen. Steinhaus erklärt das mit der Überlastung der Beamten. Mit der Einführung des Bürgergelds kürzte die Ampel auch die Mittel der Jobcenter. Das ist nun erneut geplant. Zugleich erhöht sich durch die neuen Regelungen der Verwaltungsaufwand.

Ein Problem hinter der populistischen Forderung nach Strafen: Sie funktionieren nicht. Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergeben zwar, dass Sozialhilfebeziehende unter Androhung von Sanktionen Jobs annehmen. Viele Personen landen danach aber wieder beim Jobcenter. Auch, weil sie häufig unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen. Aktuell steht zur Debatte, Personen, die Angebote häufig ablehnen, vermehrt in Ein-Euro-Jobs zu vermitteln.

Dass viele Menschen bewusst Arbeit verweigern würden, sei ohnehin ein Trugschluss, befindet Steinhaus: »5,5 Millionen Bürgergeldbeziehende sind keine homogene Masse.« Viele würden bereits arbeiten, verdienen aber nicht genug, viele seien Kinder oder Jugendliche in Ausbildung, viele seien krank oder bezögen Bürgergeld aufgrund eines Schicksalsschlags. »Wir müssen aufhören, Menschen unter Generalverdacht zu stellen.« Statt Sanktionen sei eine zielgerichtete Unterstützung nötig.

Die Debatte über das Bürgergeld, wie die Ampel sie derzeit führt, ist Ausdruck politischen Kalküls der Rechten sowie Orientierungslosigkeit der Linken. Die konkrete Ausgestaltung der Umsetzung der Beschlüsse zum Bürgergeld bleibe abzuwarten, heißt es von Seiten des Bundesarbeitsministeriums auf »nd«-Nachfrage. Im September ist die erste Beratung im Bundestag geplant.

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