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- Antisemitismus und Queer-Feindlichkeit
Die Fixierung auf Statistiken ist ein Problem
Yossi Bartal hält die »Vorfallisierung« für kein geeignetes Mittel, um Antisemitismus oder Queer-Feindlichkeit zu bekämpfen
Zahlen vermitteln uns das beruhigende Gefühl, die Welt durchschaut zu haben. In der Moderne und der noch komplexeren Postmoderne (was auch immer das sein soll) ist der Drang, alles zu quantifizieren, besonders ausgeprägt. Das gilt nicht nur für leicht messbare Dinge wie steigende Temperaturen, die verbleibenden Waldflächen im Amazonas oder die Häufigkeit des Begriffs »Eigenverantwortung« im FDP-Wahlprogramm. Seit den Anfängen der Soziologie versucht man auch gesellschaftliche Phänomene in Zahlen auszudrücken. Doch auf dem Feld der Statistik bleibt vieles unklar – wer etwas misst, in wessen Auftrag und mit welcher Methode beeinflusst die Ergebnisse, denen wir oft genauso vertrauen wie naturwissenschaftlichen Daten. Zudem dient diese Vermessung nicht nur der bloßen Erkenntnis, sondern auch der Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft als Ganzes – oft im Interesse der Mächtigen.
Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.
Deutlich wird es bei dem Versuch, Hass und Vorurteile zu quantifizieren. Studien, in denen Menschen per Anruf mit Suggestivfragen wie ›Haben Juden zu viel Macht?‹, ›Neigen Sinti und Roma zur Kriminalität?‹ oder ›Brauchen wir einen starken Führer?‹ konfrontiert werden, sollen feststellen, wie viele Menschen in Deutschland rechtsextreme Ansichten vertreten. Doch sie verdeutlichen vor allem, wie viele sich zu Aussagen bekennen, die in gebildeten Kreisen sanktioniert sind. Das ist zwar lehrreich, aber zu glauben, man könne daraus ableiten, dass 23 oder 34 Prozent der Bevölkerung Rassisten sind, ist illusorisch. Grünwähler, die ihre Kinder wegen vieler Migrantenkinder nicht zur Schule im Einzugsgebiet schicken, bleiben dabei nämlich unerfasst.
Wie heißt es so schön: »Vorurteile und Arschlöcher hat jede*r.« Viel entscheidender ist jedoch, ob sie auch öffentlich sichtbar werden. Polizeistatistiken zu Hasskriminalität geben hier erste Einblicke, obwohl sie neben realen Kategorien wie Frauenfeindlichkeit und Antiziganismus auch kuriose wie Deutsch- oder Männerfeindlichkeit umfassen. Allerdings sind auch diese jährlich veröffentlichten Zahlen problematisch. Sie reflektieren eher, wie die Polizei mit bestimmten Begriffen arbeitet, als das tatsächliche Ausmaß politisch motivierter Gewalt. Hinzu kommt, dass sich die Gesetzeslage und die behördlichen Definitionen von Hasskriminalität ständig ändern.
Die ARD hat kürzlich berichtet, dass in den vergangenen Monaten über 1000 Strafverfahren im Bereich Antisemitismus allein auf die juristisch umstrittene Kriminalisierung des Spruchs »Vom Fluss bis zum Meer« bei palästinasolidarischen Kundgebungen zurückzuführen sind – ein Ausdruck, den konservative Professoren oder der Springer-Konzern im Kontext israelischer Souveränität ohne Angst vor Strafverfolgung verwenden dürfen. Neue, für die Polizei erstellte Leitfäden kennzeichnen sogar die Fahne der Fatah-Partei oder Forderungen nach dem palästinensischen Rückkehrrecht als Anzeichen für antisemitische Delikte. Dies trägt auch zum sprunghaften Anstieg der Hasskriminalität im Phänomenbereich »ausländische Ideologien« bei. Andererseits ist davon auszugehen, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland wenig Vertrauen in die Polizei haben und daher rassistische Angriffe oft gar nicht erst zur Anzeige bringen – ganz zu schweigen von Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus.
Und da die Polizei selbst kein neutraler Akteur ist, bleibt vielleicht nur, den Opfern selbst zu glauben oder zumindest den Organisationen, die vorgeben, sie zu vertreten. Tatsächlich ist in den letzten Jahren aus Zusammenhängen, die Betroffene von Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus beraten, eine neue Organisationsform hervorgetreten: die Meldestelle. Diese zumeist staatlich finanzierten Projekte sollen Vorfälle dokumentieren – nicht nur solche, in denen Opfer bei Beratungsstellen Hilfe suchen, sondern auch solche, die von Betroffenen oder Zeugen online gemeldet oder sogar durch aktives Monitoring der Öffentlichkeit erfasst werden – unabhängig davon, ob die Vorfälle strafrechtlich relevant sind oder nicht. Mit jährlichen Berichten werden dann Zahlen präsentiert und Grafiken erstellt, um das wenig brisante Alltagsthema dank frischer Zahlen in den Medien zu platzieren, einschließlich der entsprechenden Forderungen an die Politik.
»Gegen Diskriminierung organisiert man sich am besten gemeinsam und solidarisch – am Arbeitsplatz, in den Mietervereinen und auch auf der Straße.«
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Heutzutage existieren Meldestellen für Homophobie und Transfeindlichkeit, Antiziganismus, Antifeminismus sowie für antikurdischen und antimuslimischen Rassismus. Zusätzlich gibt es das Berliner Register für antidemokratische Aktivitäten. Weitere Meldestellen sind in Planung. Für viele scheint die mittlerweile bundesweit mit 11 Büros agierende Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ein Vorbild zu sein. Zu Recht, denn die 2015 gegründete Organisation war extrem erfolgreich darin, Entscheidungsträger und Medien für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren. Das Problem: Nur ein kleiner Teil der von ihr registrierten Vorfälle betraf jüdische Individuen direkt, und scheinbar noch weniger davon offline. Leider ist die Datenbank aller Vorfälle, auch in anonymisierter Form, nicht zugänglich. In der Kategorisierung von Antisemitismus spiegelte sich zudem oft ein rechtes Weltbild wider – RIAS erklärte sogar einen Vortrag des liberalen Historikers Moshe Zimmermann zu einem antisemitischen Vorfall, weil der israelische Professor am Holocaust-Gedenktag vor Faschisierungsprozessen überall, auch in seinem Heimatland, warnte.
Selbst wenn andere Meldestellen seriöser und transparenter mit der Erfassung von Vorfällen vorgehen, sind einige Probleme nicht wegzudenken. Wie will man genau zwischen Rassismus und Islamfeindlichkeit unterscheiden, wenn zum Beispiel eine Frau mit Kopftuch mit »Ausländer raus« beschimpft wird? Hat die Zunahme von registrierten Vorfällen nicht viel mehr mit der Bekanntheit einer Meldestelle oder mit der Anzahl ihrer Mitarbeiter im Monitoring-Bereich zu tun, als mit einem tatsächlichen Anstieg? Und sollen ein schlechter Witz, eine unangenehme Anmerkung und eine ernsthafte Gewalttat wirklich in einer Reihe stehen? Verstehen wir Diskriminierungsformen wirklich besser dadurch oder wird damit eher Alarmismus geschaffen?
Es stimmt, Aktivisten werden von der Politik oft nicht ernst genommen, wenn sie keine scheinbar objektiven Messwerte liefern können. Ebenso ist die Fixierung der Medien auf Zahlen, selbst wenn ihre Quellen zweifelhaft sind, ein weit verbreitetes Ärgernis. Aber sollten die begrenzten Kapazitäten antirassistischer Initiativen wirklich in die Erstellung langer statistischer Berichte investiert werden? Müssen wir unbedingt polizeiliches Handeln imitieren, um die Gesellschaft im Blick zu haben? Die Ergebnisse der letzten Wahlen sprechen bereits Bände über das Rassismus- und Sexismusproblem in diesem Land.
Gegen Diskriminierung organisiert man sich am besten gemeinsam und solidarisch – am Arbeitsplatz, in den Mietervereinen und auch auf der Straße. Stellen, die Opfern juristische und psychologische Beratung anbieten, müssen gestärkt werden, auch finanziell. Die »Vorfallisierung« des Lebens durch solche Zahlenfabriken, die Rassismus in zahlreiche Unterkategorien fragmentieren, hilft hingegen wenig um eine gesellschaftliche Ordnung zu verändern, die auf Ausbeutung und sozialer Spaltung beruht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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