»Minderheitsthemen sind zu stark in den Vordergrund gerückt«

Die Thüringer SPD hat einen Seeheimer Kreis gegründet. Sprecherin Katja Böhler ist sicher: Ihre Partei braucht einen konservativen Richtungswechsel

Georg Maier soll die Thüringer SPD beim Wahlkampf um die kommenden Landtagswahlen anführen. Der neu gegründete Seeheimer Kreis unter SPD-Staatssekretärin Katja Böhler ist der Meinung: Nur mit einem Richtungswechsel kann die Partei im ländlichen Thüringen Stimmen gewinnen.
Georg Maier soll die Thüringer SPD beim Wahlkampf um die kommenden Landtagswahlen anführen. Der neu gegründete Seeheimer Kreis unter SPD-Staatssekretärin Katja Böhler ist der Meinung: Nur mit einem Richtungswechsel kann die Partei im ländlichen Thüringen Stimmen gewinnen.

Was haben Sie gegen das Kino von heute?

Das Kino von heute? Nichts, aber ich finde das Kino von heute sehr schnell, die Schnitte ebenso, die Themen weit weg und abgehoben. Vor allem aber gibt es im ländlichen Raum oft gar kein Kino mehr, und die mobilen Formate von früher sind weggebrochen.

Und deshalb haben Sie im ländlichen Raum zu einem Kinoabend eingeladen und dabei den DDR-Klassiker »Heißer Sommer« gezeigt?

Ich habe zum Kinosommer im Wartburgkreis eingeladen, weil ich den Eindruck habe, dass die Menschen wieder etwas Schönes brauchen, etwas, das sie zusammenbringt. Der Film erinnerte viele der Gäste an ihre Jugend. Darum haben sich die Leute, die diesen Kinosommer vor Ort mitorganisiert haben, diesen Film selbst ausgesucht.

interview

Katja Böhler ist Sprecherin des Seeheimer Kreises in der Thüringer SPD, der sich vor sechs Monaten gegründet hat. Seit 2021 ist sie Staatssekretärin für Forschung, Innovation und Wirtschaftsförderung im Thüringer Wirtschaftsministerium.

Die Thüringer Seeheimer bewerben ihn im Internet so: »Kommen Sie vorbei und genießen Sie einen nostalgischen Kinoabend!« Ist das Ihr politisches Versprechen: Mit uns konservativen Sozialdemokraten wird’s so schön wie früher?

Wir wissen, dass es eine große Politikverdrossenheit gibt und da würde es keinen Sinn machen, wenn ich die Menschen primär dazu einladen würde, über Landes- oder Bundespolitik zu diskutieren. Wenn die Seeheimer aber zu einem Kinoabend einladen, dann kommen die Menschen, weil sie Kino mögen und weil sie die Filme kennen. Das hat viel mit Identität zu tun, mit Heimat. Und die älteren Menschen, die solche Filme besonders ansprechen, die blicken auch gerne mal zurück. Daran ist nichts falsch.

Aber ist dieser Blick zurück wirklich noch zeitgemäß? Wir leben heute in ganz anderen Zeiten. Wir sind mit mehreren, gleichzeitig geschehenden Krisen konfrontiert. Der Film »Heißer Sommer« stammt aus dem Jahr 1968. Ihr Parteifreund Olaf Scholz hat den Begriff »Zeitenwende« geprägt …

Den Menschen etwas Schönes zu geben, Heimat, Identifikation ist auf jeden Fall zeitgemäß. Wenn Sie da gewesen wären, als wir diesen Film gezeigt haben, dann hätten Sie gesehen: Die Leute haben gemeinsam gelacht und waren glücklich. Darum geht es doch. Es darf nicht nur Krisen geben. Es muss auch ein Stückchen Glück im Leben sein.

Hat Politik in Deutschland allgemein und rot-rot-grüne Landespolitik in Thüringen im Speziellen in den vergangenen zehn Jahren zu wenig Glücksgefühle vermittelt?

(Lacht) Die Coronakrise hat sehr viel an sozialem Leben zerstört. Deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen wieder rausgehen, wieder miteinander ins Gespräch kommen. Dazu trägt ein Kinosommer auch bei. Und im Nachgang solcher Filmvorführungen kann und soll man ja auch über Politik reden.

Das war ja eine der Gründungsideen der Seeheimer in Thüringen, oder? Wieder stärker auf die Menschen im ländlichen Raum hören.

Genau. Thüringen ist ein ländlich geprägtes Land. Selbst unsere Städte sind ja keine riesigen Metropolen. Deshalb ist es für uns so zentral, dass wir uns im ländlichen Raum bewegen und uns um die Menschen im ländlichen Raum kümmern. In unserem Erfurter Programm ist das ein zentrales Thema.

In diesem Gründungspapier der Thüringer Seeheimer steht auch, man müsse den Menschen wieder mehr das Gefühl vermitteln, dass in Deutschland Recht und Gesetz auch wirklich durchgesetzt werden. Das klingt nach einer Abrechnung mit Rot-Rot-Grün und auch mit Thüringens Innenminister Georg Maier, der gleichzeitig SPD-Vorsitzender im Land ist.

Nein, überhaupt nicht. Thüringen ist eines der sichersten Bundesländer überhaupt. Das hat ja auch Gründe. Das eine ist das, was die Landesregierung tut, zum Beispiel um Sicherheit zu gewährleisten. Das andere ist aber das, wie die Menschen sich fühlen. Georg Maier ist sehr stark im Bereich innere Sicherheit unterwegs. Aber wenn sie sich die vor wenigen Monaten vorgelegte Studie »Wie tickt Thüringen?« anschauen, dann sehen Sie, dass die Sicherheitsfrage ganz viele Menschen trotzdem bewegt. Also müssen wir das Thema adressieren.

Also sind Sie unzufrieden damit, wie Rot-Rot-Grün und Georg Maier mutmaßliche politische Erfolge wie die gute Sicherheitslage verkaufen? Sonst gäbe es dieses Unsicherheitsgefühl ja nicht …

Nein. Vielmehr sind in der jüngeren Vergangenheit doch auch ständig neue Unsicherheitsfaktoren dazu gekommen. Denken Sie zum Beispiel an den Messerangriff in Mannheim. Deshalb muss man weiter an der Sache arbeiten, aber auch deutlich kommunizieren, dass wir ein sehr sicheres Bundesland sind.

Sie haben den Seeheimer Kreis in Thüringen vor einem halben Jahr gegründet. Da konnten Sie unmöglich wissen, dass es in Mannheim im Mai eine islamistisch motivierte Messerattacke geben würde.

Das war nur ein aktuelles Beispiel, es gab in der Vergangenheit andere. Wir haben den Seeheimer Kreis in Thüringen aber nicht in erster Linie wegen des Themas Sicherheit gegründet. Wir haben den Seeheimer Kreis gegründet, weil wir der Meinung sind, dass wir wieder stärker über Themen reden müssen, die die Mehrheitsgesellschaft in diesem Land wirklich bewegen …

… was aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren nicht ausreichend gemacht wurde?

Das ist richtig. In den vergangenen Jahren sind Minderheitenthemen zu stark in den Vordergrund gerückt worden. Die Mehrheit ist häufig aus dem Blick geraten.

Worüber würden Sie denn gerne häufiger reden?

Die Menschen in Thüringen haben im Durchschnitt die geringsten Bruttorenten bundesweit. Eine Durchschnittsrentnerin in Thüringen hat nach allen Abzügen ungefähr 1100 Euro netto pro Monat. Davon muss sie die Miete bezahlen, Strom, alles, was sie zum Leben braucht. Wenn sie sich dagegen die Bedarfsberechnung eines Bürgergeld-Empfängers anschauen, dann bekommt er einen Regelsatz von 563 Euro, plus Miete, plus Heizkosten und anderes mehr. Nach 40 Arbeitsjahren hat ein Rentner am Ende des Monats weniger Geld zur Verfügung hat als der Bürgergeld-Empfänger. Um nicht falsch verstanden zu werden: Damit sage ich nicht, das der Bürgergeldbezieher zu viel, sondern damit sage ich, dass die Rentnerin zu wenig bekommt.

Und welche Themen sind aus Ihrer Sicht zu Unrecht nach vorne gerückt worden?

Da will ich Ihnen nur ein Beispiel geben: die Cannabis-Legalisierung. Das kann man gut oder schlecht finden aber es ist doch ein Fakt, dass das ein Randthema ist, auch wenn sich die Bundesregierung dieses Themas sehr stark angenommen hat. Das gleiche gilt für die Diskussionen um die sozialen Geschlechter. Dass jemand seinen Geschlechtseintrag in amtlichen Dokumenten einmal im Jahr ändern darf, ist für bestimmte Personengruppen bestimmt wichtig. Aber erzählen Sie das mal dem Bauern, der zuckt im besten Fall mit den Achseln… Beim Thema Migration dagegen fehlt bis heute ein wirklich wirksamer Ansatz.

Dabei behaupten doch alle Parteien, Konzepte für den Umgang mit Migranten gefunden zu haben, die legal oder illegal nach Europa kommen.

Wir müssen das Recht auf Asyl wahren, aber Zuwanderung wirksam begrenzen. Dafür gibt es bislang keine überzeugenden Ansätze. Es ist aber unabdingbar, die Kommunen zu entlasten. Die einzige Partei, die von der Migrationsfrage profitiert, ist die AfD mit menschenverachtenden Ansätzen. Ich finde, dass man ihr dieses Feld nicht überlassen darf. Das zeigt auch das Europawahl-Ergebnis. Unser Abschneiden als SPD dabei ist noch gar nicht hinreichend aufgearbeitet worden; auch nicht vom Kanzler. Unter dem Strich brauchen wir in dieser Frage einen Politikwechsel. Das ist seit Langem absehbar.

Das klingt sehr danach, als seien Sie eine weitere politische Gruppierung, die versucht, vom Frust vieler Menschen über die Politik der Bundesregierung, aber auch der Landesregierung in Thüringen zu profitieren.

Nein, wir sind nicht auf der Frust-, sondern der Motivationswelle unterwegs. Wir sehen, dass wir eine andere politische Akzentuierung brauchen. Mit den Erfahrungen, die wir im ländlichen Raum, in den Landkreisen und Kommunen gesammelt haben, müssen wir in Richtung Bund marschieren und sagen: Hier muss es anders werden. Zum Beispiel bei der Migration, der Gesundheitsversorgung, den Energiepreisen. Wir haben einfach festgestellt, dass sich etliche Unterstützer der SPD in den vergangenen Jahren zurückgezogen hatten, weil sie sich mit bestimmten Themen, die von der Landes-SPD nach vorne gestellt worden sind, nicht mehr identifizieren konnten. Diese Menschen sind jetzt wieder da.

Sie finden also, dass die Thüringer SPD in den vergangenen Jahren zu links war?

Das sagen manche.

Was sagen Sie?

Ich sage: Es geht hier nicht um Fragen von linkem oder rechtem Flügel der SPD. Es geht um die verschiedenen Lebenswelten, in denen Menschen sich bewegen. Nehmen wir das Beispiel das Gendern. In einer Universitätsstadt wie Jena spielt das für eine nicht kleine Zahl von jungen Menschen eine große Rolle. Wenn Sie aufs Land gehen, dann interessiert das dort aber fast niemanden. Wir müssen die Themen in den Mittelpunkt stellen, die für eine breite Mehrheit der Menschen von Relevanz sind: Wir müssen den Lehrermangel an Schulen beseitigen, wir müssen das Apothekensterben auf dem Land bekämpfen, wir müssen die Ärzte auf dem Land halten, wir müssen die Rentner besser stellen. Die Menschen dürfen nicht den Eindruck haben, dass wir uns ausschließlich um Randthemen kümmern. Und das müssen wir im Wahlkampf in den nächsten Wochen auch deutlich machen.

Nun wollen aber alle relevanten politischen Parteien das tun, was Sie gerade aufgezählt haben: Wo bleiben da die Alleinstellungsmerkmale der SPD?

Wir brauchen keine Alleinstellungsmerkmale bei den Themen, sondern bei den Lösungen. Die müssen gut sein. Und wir brauchen Koalitionspartner. Deshalb bin ich froh, wenn auch andere demokratische Parteien die Probleme endlich erkannt haben.

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