Diktatur in Argentinien: Aufgebrochener Konsens

Die Regierung um Präsident Milei versucht, die Geschichte der Militärdiktatur in Argentinien umzudeuten

  • Frederic Schnatterer, Buenos Aires
  • Lesedauer: 8 Min.
Präsident Javier Milei und seine Vize Victoria Villarruel lassen sich am Unabhängigkeitstag auf einem Panzer feiern.
Präsident Javier Milei und seine Vize Victoria Villarruel lassen sich am Unabhängigkeitstag auf einem Panzer feiern.

Die Szene war an Symbolik kaum zu überbieten: Der argentinische Präsident Javier Milei und seine Vize Victoria Villarruel stehen auf einem Panzer, mit einem aufgesetzten Maschinengewehr spielend, der Menschenmenge zuwinkend. Als Milei die Faust in die Luft reckt und ruft »Es lebe die Freiheit, verdammt!«, jubeln die Anwesenden frenetisch. Trotz niedriger Temperaturen hatten sie teils seit Stunden am Straßenrand ausgeharrt, um ihren Präsidenten zu sehen.

Und der lieferte die erhoffte Show. Es war ohne Frage das Highlight der Militärparade zum Unabhängigkeitstag Argentiniens, die am Dienstag über die Avenida del Libertador in der Hauptstadt Buenos Aires führte. Ab 11 Uhr waren Soldat*innen mit ihrem Kriegswerkzeug an den Zuschauer*innen und der aufgebauten Ehrentribüne vorbeimarschiert. Flugzeuge, Hubschrauber und Jets donnerten über die Anwesenden hinweg und malten die argentinischen Nationalfarben in den Himmel. Veteranen des Kriegs um die Malvinas (Engl.: Falklands), den Großbritannien 1982 für sich entschieden hatte und der bis heute zentral für den argentinischen Nationalismus ist, führten die Parade an.

Es war die erste Militärparade seit 2019, damals noch unter dem konservativen Präsidenten Mauricio Macri. Mitmarschieren durften rund 7000 Mitglieder der Streitkräfte – seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 waren es nicht mehr so viele gewesen. Zwar regieren die Militärs seit mehr als 40 Jahren nicht mehr – 1976 hatten sie die Macht an sich gerissen –, aber die Wunden, die die brutale Repression gegen Andersdenkende aufgerissen hat, sind noch nicht verheilt. Es wird geschätzt, dass rund 30 000 Menschen entführt, gefoltert und ermordet wurden.

Darüber, wie viel das Spektakel gekostet hat, schweigen die Verantwortlichen bisher. Es dürfte jedoch viel gewesen sein. Das ist bemerkenswert, da Milei seit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023 mantraartig betont, dem argentinischen Staat fehle das Geld. Seine Regierung verfolgt eine brutale Kahlschlagpolitik, der Staatsapparat soll auf ein Minimum reduziert werden. Dabei macht Milei, der sich selbst »Löwe« nennt, auch vor Institutionen nicht Halt, die zentral für die Aufarbeitung von Verbrechen sind, die im Rahmen der Militärdiktatur begangenen wurden. Mittel werden gekürzt, Kompetenzen gestrichen und Beschäftigte entlassen.

Anfang Juli brachte die »Internationale Plattform für Menschenrechte« ihre Sorge darüber zum Ausdruck. In einer Presseerklärung heißt es, die Milei-Regierung ziele darauf, »einer Reihe öffentlicher Maßnahmen des argentinischen Staates im Bereich der Erinnerungspolitik, des Engagements für die Wahrheit und für die Gerechtigkeit ein Ende zu setzen«. Mit »dem fadenscheinigen Argument«, die Ausgaben müssten gesenkt werden, mache sie so die »großen Fortschritte zunichte, die Menschenrechtsorganisationen in dem Bereich erzielt haben«.

Gemeint sind Organisationen wie die Abuelas de Plaza de Mayo, bei der auch Guillermo Amarilla Molfino aktiv ist. Die Gruppe kämpft dafür, dass geraubte Kinder von während der Diktatur entführten und zumeist ermordeten Eltern wiedergefunden werden. Für diese Arbeit, erklärt Amarilla Molfino dem »nd«, seien zwei Institutionen unersetzlich: die Nationale Kommission für das Recht auf Identität (Conadi) sowie die Nationalbank für genetische Daten. Nun versuche die Regierung, beide zu zerschlagen. »Wir sind sehr besorgt.«

Veteranen des Kriegs um die Malvinas marschieren auf der größten Militärparade seit dem Ende der Diktatur 1983.
Veteranen des Kriegs um die Malvinas marschieren auf der größten Militärparade seit dem Ende der Diktatur 1983.

Amarilla weiß, wovon er spricht. Seine Mutter wurde während der Diktatur vom Militär entführt, als sie im ersten Monat schwanger war. Guillermo kam in Gefangenschaft zur Welt, wurde seiner Mutter weggenommen und wuchs bei einem anderen Paar auf. »Als bei mir Zweifel ob meiner Identität aufkamen, habe ich mich an die Conadi gewandt«, erklärt er. 2019 wurde sein Fall aufgeklärt, und er lernte seine Geschwister kennen.

»In den mehr als 40 Jahren Demokratie in Argentinien hat es immer Höhen und Tiefen in der Erinnerungspolitik gegeben«, erklärt Amarilla. Die jetzige Regierung jedoch habe einen »Kulturkampf« vom Zaun gebrochen. »Sie holt Narrative hervor, von denen wir eigentlich dachten, dass sie überwunden seien.« Heute werde ganz offen die Meinung vertreten, bei der Repression gegen Andersdenkende während der Diktatur habe es sich nicht um »Staatsterrorismus« gehandelt, sondern um einen »notwendigen Krieg«. In Argentinien wird in diesem Zusammenhang von »zwei Dämonen« gesprochen: auf der einen Seite die Militärs, die exzessive Gewalt anwendeten, auf der anderen die subversiven Gruppen, die in ihrem Kampf gegen das Regime auch auf Gewalt setzten.

Ximena Tordini, Chefredakteurin der Zeitschrift »Crisis« und Expertin für das Thema gewaltsames Verschwindenlassen, sieht darin den Versuch, »massiv in das historische Gedächtnis einzugreifen«. Gegenüber dem »nd« zeigt sie sich überzeugt, dass die Regierung »das Ziel hat, den bestehenden Konsens über die Ereignisse im Argentinien der 70er Jahre aufzubrechen«. Die Diktatur werde als eine »Notwendigkeit« dargestellt. Die Argumentation: »In Argentinien herrschte Chaos. Dieses Chaos rechtfertigte das gewaltsame und illegale Eingreifen der Streitkräfte.«

Das Gefährliche daran: Das Narrativ ist nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit wirkmächtig. Tordini gibt zu bedenken: »Es ist ein Leichtes, diese Argumentation in die argentinische Gegenwart zu übersetzen.« Letztlich könne so auch heute staatliche Repression gerechtfertigt werden. »Es handelt sich um eine Art Warnung: Unter bestimmten Umständen könne es gerechtfertigt sein, dass der Staat autoritär handelt.«

Eine besondere Rolle kommt dabei der Vizepräsidentin zu. Victoria Villarruel, die aus einer wichtigen Militärfamilie kommt, setze alles daran, »den heroischen Charakter der Streitkräfte wiederherzustellen«, erklärt Tordini – als »Helden im Krieg gegen die Subversion«. So werde ein Feindbild konstruiert: die Linke. Grundlegend dafür sei die Idee, dass die revolutionären Gruppen im Argentinien der 70er Jahre »terroristische Organisationen« gewesen seien. Auch hier ist eine Parallele zur Gegenwart zu erkennen: Zuletzt wurden bei Protesten Festgenommene mit dem Vorwurf des »Terrorismus« angeklagt.

Wie zentral der Begriff des Terrorismus für die Umdeutung der Diktaturvergangenheit ist, zeigte sich auch drei Tage vor dem Unabhängigkeitstag im Zentrum von Buenos Aires. Es ist Samstagvormittag und kalt. An der U-Bahn-Station Entre Ríos – Rodolfo Walsh haben sich um die 100 Personen eingefunden. Sie stehen auf dem Gehsteig vor einer Filiale der Nationalbank. Junge, Alte, Männer und Frauen. Am Eingang des Bankgebäudes lehnt viele Schilder, die später an die Demonstrierenden verteilt werden. Auf der anderen Straßenseite ein Kleintransporter mit großen Lautsprechern, aus denen traditionelle Chacarera-Musik ertönt. Die Demonstrierenden fordern die Umbenennung der U-Bahn-Station in »Opfer des Terrorismus«.

»Die Regierung hat das Ziel, den bestehenden Konsens über die Ereignisse im Argentinien der 1970er Jahre aufzubrechen.«

Ximena Tordini Chefredakteurin von »Crisis«

Ein junger Mann, sportlich gekleidet, mit Megafon und einer Fahne der Milei-Partei La Libertad Avanza, stellt sich als »Nachbar« vor. Später stellt sich heraus, dass er gar nicht in der Hauptstadt wohnt. Ihm gehe es um »Wiedergutmachung« für die in den 70er Jahren begangenen Verbrechen, die noch immer straflos seien. Der aggressiv auftretende Mann meint nicht die von Militärs begangenen Verbrechen, sondern die bewaffneten Aktionen und Attentate linker Gruppen.

Wie das Bombenattentat, das ein Mitglied der Stadtguerilla Montoneros vor 48 Jahren auf eine Polizeikantine in der Nähe verübte. 23 Personen kamen damals ums Leben, 110 wurden verletzt. Die selbstgebaute Bombe legte der junge José María Salgado. Doch die Demonstrierenden sind überzeugt: Der Kopf hinter dem Anschlag sei der Schriftsteller Rodolfo Walsh gewesen. Eine alles andere als belegte These.

Den Anwesenden ist das egal. Sie überkleben eine Gedenktafel mit Walshs Konterfei an der Wand der Nationalbank. An den U-Bahneingängen bringen sie Plakate an, auf denen der Schriftsteller als »Mörder« betitelt wird. Ihnen geht es allerdings um mehr als nur die Rolle Walshs, wie auch Eric Harris betont. Der ultrarechte Influencer – »ein Freund der Demo-Organisatoren« – zeigt sich erfreut, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Ihm und den Anwesenden gehe es um »die Opfer des Terrorismus der 70er Jahre«.

Diese seien »nicht nur von kommunistischen und linken Organisationen, sondern auch vom Staat über Jahrzehnte verhöhnt« worden. Das ändere sich nun: »Mit Javier Milei an der Spitze der Regierung haben wir die Chance auf einen Epochenwandel.« Der Präsident nehme »kein Blatt vor den Mund«. So nenne er die Täter der Guerilla beim Namen und spreche nicht mehr von »jungen Idealisten«. Auch ziehe er öffentlich die »Lüge von den 30 000 Diktaturopfern« in Zweifel.

Am 24. März, dem offiziellen Gedenktag für Wahrheit und Gerechtigkeit, veröffentlichte der Präsidentenpalast Casa Rosada auf seinem Kanal ein Video. Ein Meisterwerk des Revisionismus. Die Aussage: Die Geschichte der Militärdiktatur sei bisher zu einseitig erzählt worden. Es müsse darum gehen, auch die andere Seite zu Wort kommen zu lassen. Im Klartext heißt das: Nicht nur die Verbrechen des Regimes und seiner Helfer*innen sollten thematisiert, sondern auch die linker und subversiver Gruppen müssten aufgearbeitet werden. Auch die Zahl der Diktaturopfer wird in dem Video infrage gestellt.

Analía Kanilec sieht darin einen »alarmierenden Wendepunkt«. Die Tochter eines Verbrechers aus der Epoche der Diktatur gründete 2017 die Initiative Historias Desobendientes, nachdem sie von der wahren Identität ihres Vaters erfahren hatte. Das Kollektiv setzt sich für die Aufarbeitung der Verbrechen ein. Die Logik, dass Andersdenkende ausgeschaltet werden müssen, liege auch der Milei-Regierung zugrunde. Letztlich gehe es »Teilen der Gesellschaft, bestehend aus Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte und den konservativ-rückschrittlichen Kreisen«, um die Konzentration von Macht und die ungleiche Verteilung des Wohlstands. Kanilec zeigt sich gegenüber dem »nd« dennoch vorsichtig optimistisch: »In Argentinien haben wir eine große Anzahl an Antikörpern und sehr viel Erfahrung im Kampf für Menschenrechte.«

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