Lesen lernen und den Hund streicheln

Die Margeriten-Schule in Borgsdorf erhält als erste Bildungsstätte das Schild des Startchancen-Programms

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Sozialindex legt fest, wie viele Schulen pro Bundesland gefördert werden.
Ein Sozialindex legt fest, wie viele Schulen pro Bundesland gefördert werden.

Aus einem geöffneten Fenster der Margeriten-Schule in Borgsdorf im Landkreis Oberhavel dringt Kinderlachen. Eine Klasse rüstet zum Aufbruch. »Wer muss noch auf Toilette?«, fragt die Lehrerin. Eine andere Klasse ist schon los zu einer zehn Kilometer langen Radtour rund um den Ort im Berliner Umland. Im Computerkabinett wiederum flimmern Spiele auf den Bildschirmen. »Die Klasse hat sich eine Spielstunde verdient«, erklärt Schulleiterin Bianca Elsasser.

Ab Donnerstag sind Sommerferien. Wenn die Zeugnisse bereits geschrieben sind, ist das an allen Bildungsstätten eine Zeit für Ausflüge oder andere Aktivitäten. Die Margeriten-Schule ist aber keine gewöhnliche Grundschule, sondern eine Förderschule für Kinder mit verzögerter emotionaler Entwicklung. Für Grundschulen gilt eigentlich das Prinzip: kurze Wege für kurze Beine. Das bedeutet in Städten wie Berlin einen kurzen Fußweg zum Unterricht und nach Hause. In Flächenländern wie Brandenburg muss vielleicht der Schulbus genommen werden. Aber die Fahrzeit sollte nicht zu lang werden.

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Dieses Prinzip gilt hier nicht. Die Mädchen und Jungen kommen beispielsweise aus der Gegend der etwas mehr als 40 Kilometer entfernten Städte Falkensee und Zehdenick, aber sogar aus dem Raum Gransee, wo die Distanz schon 46 Kilometer beträgt. Ein Fahrdienst bringt sie. Da wundert es nicht, wenn einige Kinder den Kopf schüttelten, als die Bundestagsabgeordnete Ariane Fäscher (SPD) in die zur Radtour aufbrechende Klasse fragt: »Fahrt ihr alle mit eurem eigenen Rad?« Der Lehrer erklärt, dass Räder im Keller bereitstehen.

Bei insgesamt 59 Schülern gibt es sechs Klassen, keine zählt mehr als zwölf Mädchen und Jungen. Diese ungewöhnlich geringe Zahl erlaubt es, die einzelnen Kinder individuell zu fördern. Schulleiterin Elsasser schließt für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) extra den Raum 107 auf, der bereit steht, damit sich Lehrkräfte auch einmal einem Kind einzeln widmen können. »Wir haben das Glück, wirklich fördern zu können«, freut sich die Schulleiterin. Unterrichtsausfall – in Brandenburg sonst eher die Regel als die Ausnahme – gebe es hier überhaupt nicht. Wie das sein kann, wo doch immer mal jemand krank ist. Wieder spricht Elsasser am Dienstag von einem Glücksfall. »Ich habe zum Glück ein Lehrerteam, das Mehrarbeit leistet, ohne zu murren.«

Ziel ist es, die Schüler so weit fit zu machen, dass sie trotz ihrer anfänglichen Schwierigkeiten nach der 6. Klasse auf eine reguläre weiterführende Schule wechseln können. Dafür muss dann aber an der Margeriten-Schule bei allen Besonderheiten der Rahmenlehrplan erfüllt werden. Der gilt hier genauso wie an allen anderen Schulen.

»Es ist das langfristigste Programm, das wir haben.«

Bettina Stark-Watzinger (FDP)
Bundesbildungsministerin

Ministerin Stark-Watzinger ist gekommen, um sich das einmal anzuschauen. Nach einer Besichtigung, bei der Journalisten zugelassen sind, zieht sich die FDP-Politikerin mit ihrem Tross zu einem Gespräch mit der Schulleiterin und deren Stellvertreterin zurück. Es findet hinter verschlossener Tür statt und soll sehr aufschlussreich gewesen sein, wie Stark-Watzinger hinterher vor dem Schulgebäude zu Protokoll gibt. Sie habe erfahren, dass die Kinder oft nicht die Unterstützung in ihren Elternhäusern erfahren, die sie bräuchten. Dann überreicht die Politikerin zum ersten Mal ein Startchancen-Schild, das am Eingang angebracht werden soll. Das ist der Anlass ihres Besuchs.

Nach langen Verhandlungen von Bund und Ländern läuft das sogenannte Startchancen-Programm im August an zunächst 2000 Schulen an. Über zehn Jahre hinweg investiert der Bund insgesamt zehn Milliarden Euro in 4060 ausgewählte Schulen. Die Bundesländer geben noch einmal zehn Milliarden Euro dazu. »Es ist das langfristigste Programm, das wir haben«, erläutert Stark-Watzinger. Sie sagt außerdem: »Die Bildung ist einfach das Wichtigste.«

In den Genuss der Mittel sollen Bildungsstätten kommen, die einen hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler haben oder viele Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Dem Bundesbildungsministerium ist bewusst, was zahlreiche Studien belegen: Dass der Lernerfolg in der Bundesrepublik so sehr wie sonst kaum auf der Welt vom Einkommen der Eltern abhängt. Es soll etwas unternommen werden, damit benachteiligte Kinder endlich eine echte Chance erhalten, etwas aus sich zu machen. Eine Million Schüler werden von dem Startchancen-Programm profitieren. Es soll nicht weiter so sein, dass viele nie richtig lesen, schreiben und rechnen lernen und dann natürlich keinen qualifizierten Beruf ergreifen können.

Auf Brandenburg entfallen 270 Millionen Euro vom Bund und 270 Millionen Euro vom Land. Die Summe wird auf 110 ausgewählte Schulen verteilt. »Die Landesregierung unterstützt das Programm von der ersten Minute an«, versichert in Borgsdorf Staatssekretär Bemjamin Grimm (SPD). Er untersteht nicht Bildungsminister Steffen Freiberg (SPD), sondern Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), ist dessen Beauftragter für die Digitalisierung. So erklärt sich sein Hiersein, denn eine Säule des Startchancen-Programms ist die Ausstattung mit modernster Technik. Die gibt es an der Margeriten-Schule allerdings schon. Davon kann sich Ministerin Stark-Watziner überzeugen, als sie einen Klassenraum betritt, in dem die Kinder mit Kopfhörern an Tablets sitzen. Stark-Watzinger staunt, wie ruhig die Kleinen bei der Sache sind.

Schulleiterin Elsasser will die unverhofft kommenden Gelder unter anderem für die Tierpädagogik einsetzen. Ein Schulhund ist bereits angeschafft und die Kinder gehen zudem mit einer Therapeutin reiten. Das kann Elsasser nun weiterfinanzieren und es noch ausbauen. Die Pädagogin ist erleichtert, dass dies ohne bürokratische Hürden vonstatten geht. Bisher hatte sie keinen Papierkram zu erledigen, musste keinen Antrag stellen. »Wir wurden benannt und herzlich im Programm willkommen geheißen.« Wie ihr versichert wurde, solle auch kein großer Aufwand mehr nachkommen. Ein paar Unterschriften seien sicherlich zu leisten, aber es kämen keine unüberwindlichen Hindernisse.

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