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Wähler im Osten: nicht der dumme Rest
Die gängigen Erzählungen zum Wahlverhalten der Ostdeutschen blamieren sich an der Realität
Die Analyse der Zustimmungswerte von Rechts- sowie Linkspopulisten speziell im Osten der Bundesrepublik ist noch sehr in alten Vorstellungen verhaftet. Die obligatorische Erzählung lautet: Wegen ihrer kollektiven ideologischen Zurichtungen in der DDR, aber auch des Erbes des Naziregimes neigten die Ostdeutschen eher dazu, Gewaltenteilung und Pluralismus abzulehnen. Doch diese Sicht blamiert sich an der Realität.
Denn wie bitte erklären sich die Vertreter dieser These die Tatsache, dass in allen Umfragen die AfD bei den älteren Semestern am schlechtesten abschneidet, egal ob im Osten oder im Westen der Republik? Auf der Straße stehen die Omas gegen rechts Seite an Seite mit jungen Antifaschisten. Dagegen fehlen Menschen im Alter zwischen Mitte 30 und Ende 50. Das ähnelt ein wenig der Situation in den 90er Jahren: Eltern ließen ihren Nachwuchs damals mit dem Problem der rechtsextremen Dauermobilisierung und Gewalt im Osten allein.
Eine weitere gern verbreitete Mär ist die von den frustrierten Wendeverlierern, die per Stimmzettel der Demokratie einen Denkzettel verpassen wollen. Schon vor zehn Jahren blickte laut Umfragen die Hälfte der Bürger der ehemaligen DDR optimistisch in die Zukunft. Nur 23 Prozent dagegen definierten sich damals als Wendeverlierer. Rein mathematisch gesehen ein Glücksfall für einfach gestrickte Erbsenzähler: Dies entspricht nämlich ungefähr den Zustimmungswerten der Rechtspopulisten im Osten der Republik.
»Verlierer« sind eher Nichtwähler
Aber bei genauerer Betrachtung fallen relevante Widersprüche auf. Viele »sozial abgehängte« Menschen gehen nicht zur Wahl: je ärmer ein Wahlkreis, desto niedriger die Wahlbeteiligung. In den ostdeutschen Ländern war der Nichtwähleranteil bei der Bundestagswahl 2021 mit 27,1 Prozent am höchsten.
Darüber hinaus wanderten im Zeitraum von 1991 bis 2022 rund 1,2 Millionen Menschen mehr von Ost nach West als umgekehrt. Insbesondere die Abwanderung von Personen im jüngeren und mittleren Alter hatte dramatische Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik verlor der Osten mehr als 731 000 Personen, die bei ihrem Wegzug jünger als 25 waren. Vermehrt zogen junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen fort, mehrheitlich Frauen. 1990 war die Bevölkerung im Osten jünger als im Westen, dies hat sich im Verlauf der Jahrzehnte umgekehrt. 2022 war im Osten der Anteil der ab 65-Jährigen mit 27 Prozent deutlich höher als im Westen (21 Prozent).
Ketzerisch formuliert machte in den vergangenen Jahrzehnten also genau jenes junge, weibliche und gut ausgebildete Klientel »rüber«, das derzeit noch verhindert, dass die AfD auch im Westen zur stärksten Partei avanciert. Von dort kamen dafür Rentner, Rechtspopulisten und Neonazis. Personen wie Björn Höcke, Alexander Gauland, Andreas Kalbitz, Götz Kubitschek oder Thorsten Heise stammen aus Westdeutschland.
Die tiefgreifende Deindustrialisierung und der damit einhergehende Niedergang bei kulturellen Angeboten und kommunalen Einrichtungen hinterließ eine Region mit billigen Immobilien und einer desillusionierten Bevölkerung – die perfekte Spielwiese für rechtsextreme Kader. Während aber DVU und NPD seinerzeit noch scheiterten, gelang der AfD die tiefgreifende Verankerung im (Klein-)Bürgertum des Ostens.
Gutbürgerliche Klientel
Ihr Rückgrat sind vor allem in Kleinstädten und im ländlichen Raum relevante Teile der gesellschaftlichen Elite: Richter, Journalisten, Anwälte, Ärzte, Unternehmer, Lehrer. Sie repräsentieren das Milieu und Alterssegment, in dem die Partei die meisten Stimmen verbuchen konnte. Es handelt sich bei ihnen überwiegend um sogenannte Wendegewinner: Leute, die um Besitzstände fürchten, die »Verlierer« nicht haben.
Aufgrund des Alters – die meisten Stimmen kann die AfD von 35- bis 44-Jährigen verbuchen – lässt sich 35 Jahre nach der Wende auch kaum die These belegen, dass diese Wähler maßgeblich durch die DDR-Erziehung geprägt sind. Es sei denn, wir kramen die Theorie von Christian Pfeiffer noch einmal aus der Mottenkiste hervor, der zufolge das kollektive Aufs-Töpfchen-Gehen autoritäre Charaktere formte.
Die funktioniert allerdings bei den noch Jüngeren erst recht nicht. Unter ihnen hat die AfD besonders großen Zuspruch. In dieser Alterskohorte gibt es keine eigenen Erinnerung an die Verhältnisse in der DDR. Das zeigt sich gerade in der Aneignung von Parolen der DDR-Oppositionsbewegung wie »Wir sind das Volk« und der friedenspolitischen Rhetorik der SED.
Diese Melange findet sich auch bei Anhängern des Bündnisses Sahra Wagenknecht. Aber auch das ist keines dieser unerklärlichen Ost-Phänomene. 80 Prozent der Kandidaten von AfD wie BSW zur Europawahl stammen aus dem Westen. Die Fokussierung populistischer Formationen auf den Osten als Experimentierfeld hat viel mehr mit der fehlenden Bindung der Wähler an klassische Parteien zu tun als mit Erfahrungen aus DDR-Zeiten.
Gleichwohl schielen die Parteistrategen auf tradierte Gefühle der Deklassierung. Genutzt wird dabei eine Mischung aus ideologischen Versatzstücken aus der Nazizeit sowie der alten Bundesrepublik und der DDR. Dazu gehören der Arbeitsfetisch, eine tiefsitzende Ablehnung von allem Fremden und die Auffassung, dass deutsche Interessen über alles gehen. Auch über Leichen, ob nun in der Ukraine oder im Mittelmeer.
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