- Politik
- Drogenpolitik in Kanada
Maximaler Schaden
Im kanadischen Bundesstaat British Columbia erkämpften Aktivisten eine Liberalisierung der Drogengesetze. Die wurde nun kassiert – mit harten Folgen
Garth, als wir zuletzt sprachen, war in British Columbia gerade ein Gesetz zur teilweisen Entkriminalisierung sogenannter harter Drogen in Kraft getreten. Im April dieses Jahres wurde die Änderung schon wieder rückgängig gemacht. Können Sie erläutern, was die Entkriminalisierung zur Folge hatte und wie die aktuelle Rechtslage ist?
Anfang 2023 wurde es in British Columbia legal, 2,5 Gramm Opioide, Kokain, Methamphetamin oder MDMA zu besitzen. Dafür hatten wir als »Vancouver Area Network of Drug Users« gemeinsam mit anderen Aktivist*innen lange gekämpft – es war nicht perfekt, aber es war ein guter Schritt. Allerdings begannen die konservativen Politiker*innen und der rechte Flügel bald nach der Gesetzesänderung, jedes soziale Problem auf die Entkriminalisierung zu schieben. Zum Beispiel gibt es hier sehr viel Wohnungslosigkeit, sogar Ärzte und Anwälte haben Schwierigkeiten, sich eine Wohnung in Vancouver zu leisten. Aber die Politik machte nicht die Mietpreise für diese Krise verantwortlich, sondern das neue Drogengesetz. In Nordamerika ist die Dämonisierung von Obdachlosen und Drogenkonsument*innen immer eine gute Strategie, um gewählt zu werden. Und so hat der Premierminister von British Columbia, David Eby, schließlich nachgegeben und das neue Drogengesetz wieder abgeschafft.
Sie haben die Wohnungskrise angesprochen. Sehen Sie eine Verbindung zwischen repressiven Ansätzen in Bereichen wie Obdachlosigkeit oder Migration und einer repressiven Drogenpolitik? Sind das alles Bestandteile eines allgemeinen rechten Rollbacks?
Ja. Seit Anfang 2022 sind die Rechten in Kanada so richtig auf dem Vormarsch, sie hatten damals drei Wochen lang das Kapitol besetzt, um gegen die Impfpflicht und andere Covid-Maßnahmen zu protestieren. Sie kamen mit Lastwagen und füllten die Straßen – es waren mehrere Tausend Menschen, was den Rechten einen echten Auftrieb verschaffte. Ursprünglich hatten sie sich wegen der Pandemie versammelt, begannen aber dann, gegen trans Personen und Einwanderung zu hetzen. Da dachte ich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Leute auch uns finden, die Drogenkonsument*innen.
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Wie ist die Situation auf den Straßen im Moment, hat sich die Lage verschlechtert?
Die Entkriminalisierung hatte insofern funktioniert, als es weniger Verhaftungen gab. Ins Gefängnis zu kommen, hat oft harte Konsequenzen für das Leben der Betroffenen: Man kann die Wohnung verlieren, das Kind weggenommen bekommen, den Job verlieren. Es kann die Toleranz gegenüber Drogen sinken und das Risiko einer Überdosis steigen. Deshalb fanden wir es natürlich gut, dass weniger Menschen inhaftiert wurden. Aber die Politiker der Mitte und der Rechten sind anderer Meinung, sie wollen nicht weniger, sondern Menschen einknasten. Darüber hinaus konnte die Entkriminalisierung nicht wirklich etwas gegen das toxische Drogenangebot ausrichten, daran starben weiterhin viele Menschen. Es gab zwar einige Bemühungen für eine sichere Versorgung, aber die waren nie ernsthaft genug.
Was bedeutet denn sichere Versorgung?
Als ich selbst vor vielen Jahren heroinabhängig war, bekam ich Methadon, das ist ein ziemlich guter Ersatz für Heroin. Wenn man Drogenkonsument*innen Methadon verabreicht, tauscht man eigentlich nur ein bestimmtes Opioid, traditionell Heroin, gegen ein stabileres, verschriebenes Opioid aus. Das ist sichere Versorgung. Das Gleiche sollte mit dem heutigen Straßen-Drogenangebot geschehen, bei dem es sich größtenteils um Fentanyl handelt. Weil das ein viel stärkeres Opioid ist als Heroin, braucht man aber einen stärkeren Ersatz als Methadon – zum Beispiel einfach Fentanyl auf Rezept. Dann würden die Menschen nicht an den giftigen, gestreckten Substanzen sterben, die auf der Straße verkauft werden. Für solche Angebote haben wir viele Jahre lang gekämpft, und während der Pandemie hatte die Regierung von British Columbia endlich ein kleines Programm aufgelegt. Es erreichte allerdings nur etwa 5000 von den 250 000 Drogenkonsument*innen in BC. Bei der geringen Zahl der Proband*innen konnte das Programm keine umfassende Wirkung entfalten. Doch die Untersuchungen, die an dieser kleinen Population durchgeführt wurden, ergaben, dass die Zahl der Überdosierungen durch die Verschreibung von sicheren Medikamenten tatsächlich stark zurückgeht. Da die Regierung aber nur an diesem sehr kleinen Projekt interessiert zu sein schien, gründeten wir eben unser eigenes mit dem Namen »Drug User Liberation Front« und kauften Heroin, Koks und Methamphetamin aus dem Dark Web. Wir testeten die Substanzen und verteilten sie an die Mitglieder der »Drug User Union«. Es war ein symbolischer Protest, ein kleiner Akt des zivilen Ungehorsams. Aber so konnten wir immerhin zeigen, wie sowas gehen kann.
Ist dafür jemand verurteilt worden? Der Kauf von illegalisierten Substanzen, zumal der organisierte, ist ja eine Straftat.
Die Polizei hat zu Beginn des oben genannten Rechtsrucks eine Razzia bei uns durchgeführt. Sie haben zwei von uns verhaftet, die Urteile steht noch aus.
Sämtliche seriöse Studien zum Konsum kriminalisierter Drogen beweisen, dass eine Versorgung mit sicheren Substanzen die Zahl der Todesfälle deutlich verringert. Trotzdem hält sich die repressive und ausgrenzende Ideologie und Praxis rund um den Drogenkonsum hartnäckig. Warum setzen Politiker*innen immer wieder auf Kriminalisierung und Prohibition?
Die Politik der Regierung ist doch generell nicht evidenzbasiert: Umweltpolitik beruht nicht auf Fakten, die Politik zur Verteilung des Wohlstands beruht nicht auf Fakten. Wenn sich an den Verhältnissen etwas ändert, dann nicht, weil es Beweise für die Missstände gibt, sondern weil Menschen sich organisieren und Veränderungen erkämpfen.
Die Opioid-»Epidemie«, wie die Prohibitionskrise häufig genannt wird, ist ja zugleich doch ein anerkanntes Problem für die Regierungen. Aber die Maßnahmen, die in dem Zusammenhang ergriffen werden, sind eben völlig untauglich – obwohl hier keine großen Kapitalinteressen berührt werden, wie das etwa in der Wohnungspolitik der Fall ist. Das ist schon erklärungsbedürftig. Aber Sie haben auch recht: Das bloße Vorhandensein eines sozialen Problems bedeutet nicht, dass die Politik daran interessiert ist, es zu beheben. Oder besser gesagt, es gibt staatliche Interessen, die wichtiger sind.
Keine Regierung ist jemals gestürzt, kein Minister gefeuert worden, weil sie nicht genug gegen Drogentote unternommen haben. Und das nur nebenbei: Wegen der vielen Todesfälle im Zusammenhang mit Covid ist auch niemand aus dem Amt geflogen. Es ist einfach so, dass die Regierungen – wahrscheinlich überall auf der Welt – erkannt haben, dass sie wirklich keinen Preis für ein Massensterben in ihrer Bevölkerung zahlen, solange es nur die »richtige« Gruppe von Menschen ist, die stirbt.
Vermutlich leben auch in Vancouver immer mehr Menschen auf der Straße, genau wie hier in Berlin. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der staatlichen Drogenpolitik und der Polizeiarbeit im öffentlichen Raum, gibt es eine Tendenz zu einer repressiveren Herangehensweise auch im Umgang mit Obdachlosen?
Auf jeden Fall. In fast jeder kanadischen Stadt gibt es mittlerweile Zeltstädte von Menschen ohne Wohnung, in einem Ausmaß wie seit der »Großen Depression« in den 1930er Jahren nicht mehr. Und der Staat geht immer aggressiver vor. Die Polizei ist jederzeit bereit, solche Zeltlager aufzulösen und die Menschen zu vertreiben, obwohl sie buchstäblich nirgendwo hinkönnen, obwohl die Notunterkünfte voll sind und es keine Wohnungen gibt. Nach der Räumung eines solchen Camps errichten die Bewohner*innen direkt irgendwo das nächste Zeltlager, weil sie eben keine andere Wahl haben.
Die Stadt Grants Pass im US-Bundesstaat Oregon möchte das Schlafen auf der Straße vollständig verbieten und hat darin gerade vom Supreme Court Recht bekommen. Damit werden faktisch Menschen für ihre bloße Existenz kriminalisiert: Sie können sich keine Wohnung leisten, müssen sich also irgendwo im öffentlichen Raum aufhalten, aber das ist verboten. Das ist eine alarmierende Entscheidung, bei der man sich fragt, wo das alles hinführen soll.
Mir scheint, als gäbe es viel gesellschaftliche Unterstützung für die Inhaftierung und erzwungene Hospitalisierung von Menschen, deren einzige »Schuld« darin besteht, dass sie Drogen konsumieren und/oder keine Wohnung haben. Natürlich hat sich längst gezeigt, dass ein solches Vorgehen den Betroffenen nicht hilft, weil sich Drogenkonsument*innen verstecken, wenn sie Angst haben, ansonsten eingesperrt zu werden – und damit auch jede Art von Hilfe oder Unterstützung vermeiden.
Wie wirken sich diese bedrohlichen Entwicklungen auf die Organisierung bezüglich der Legalisierung aus? Gibt es eine Mobilisierung gegen die Kehrtwende in der Drogenpolitik?
Es gestaltet sich gerade alles ziemlich schwierig, auch weil die Community schon so lange mit dem toxischen Drogenangebot zu kämpfen hat. Wenn dann noch toxische Politik hinzukommt, ist das eine weitere Frontlinie. Wir haben erstmal einen Prozess der gegenseitigen Aufklärung darüber durchgemacht, wer hier eigentlich die Akteur*innen sind, woher dieser rechte Rollback kommt. Vielen Drogenkonsument*innen fällt es schlicht schwer zu glauben, dass diese Leute, die hier an der Macht sind, wirklich so grundfalsche Ideen vertreten. Wir müssen diese Realität natürlich anerkennen, geraten dabei aber in die Defensive. Wenn wir die Errungenschaften nicht schützen, die wir in den letzten 20 Jahren erkämpft haben, könnten wir sie alle verlieren. Der nächste Premierminister Kanadas könnte ein sehr rechter Typ sein, der jegliche Harm Reduction (Schadensminderung, Anm. d. Red.) ablehnt. Wir müssen uns auf diesen Kampf vorbereiten.
Zu Ihrem Podcast »Crackdown«: Die aktuelle Staffel trägt den Titel »Kids on the Block«. Können Sie ein wenig über die Entscheidung erzählen, die Geschichten von Teenagern zu erzählen?
Es gibt diese mediale Propaganda über den Schutz der Kinder, das ist eine verbreitete Taktik der Herrschenden im Drogenkrieg. Wir wollten jetzt mal herausfinden, welche Erfahrungen Menschen unter 20 Jahren, die in irgendeiner Weise mit Drogenkonsum zu tun haben, in Wirklichkeit machen. Dafür haben wir zum Beispiel jemandem gesprochen, dessen Vater an einer Überdosis gestorben ist. Wir sprachen mit einem jungen Mann, der in seiner Schule und für die Jugendlichen in seiner Stadt ein Harm-Reduction-Projekt organisiert. Außerdem porträtieren wir eine Person, die als Geflüchtete aus dem Nahen Osten nach Kanada gekommen ist, weil sie Angst hatte, wegen ihrer Homosexualität verfolgt zu werden. Sie alle kämpfen auf die eine oder andere Weise mit dem gefährlichen Drogenangebot auf der Straße. Sie alle sind gegen die Rechten, die behaupten, in ihrem Namen zu sprechen und betonen stattdessen: Was ihr Leben wirklich verbessern würde, wäre der Zugang zu Schadensminderung und die sichere Versorgung mit Drogen.
Gibt es denn immer mehr Jugendliche in diesen Situationen?
Es gibt mehr als drei, so viel ist sicher.
Garth Mullins ist Radioproduzent, Musiker und Aktivist. Er ist Vorstandsmitglied des Vancouver Area Network of Drug Users (Vandu). Der Podcast »Crackdown«, den er seit 2019 moderiert, wird in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen der University of British Columbia und der Yale University produziert. »Crackdown« ist online zu finden unter: www.crackdownpd.com. Das erste Gespräch mit Mullins erschien am 1. September 2023 unter dem Titel »Eine Krise der toxischen Drogen« in »nd.DieWoche«.
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