Obdachlose in Berlin: Ein paar Stunden der Hitze entfliehen

Obdachlose finden im Sommer in Hitzehilfe-Einrichtungen einen Ort zum Abkühlen

Mit einem Schirm versucht sich ein Mensch auf der Straße vor der Hitze zu schützen.
Mit einem Schirm versucht sich ein Mensch auf der Straße vor der Hitze zu schützen.

Es nieselt am Montagmittag. Die trockene Hitze vom Wochenende hat sich inzwischen verzogen, dafür macht sich nun eine drückende Schwüle in Berlins Straßen breit. Im AWO-Kiezcafé an der Petersburger Straße in Friedrichshain merkt man davon wenig. In dem Aufenthaltsraum im zweiten Stock ist es angenehm kühl. »Das machen die dicken Altbauwände«, sagt Nadja Stodden, die Leiterin der Einrichtung. Auch ganz ohne Klimaanlage oder Ventilatoren bleibe es so im Hochsommer erfrischend.

Ein Dutzend wohnungsloser Menschen haben sich in dem Aufenthaltsraum versammelt. Für sie ist er einer der wenigen Möglichkeiten, der Hitze auf den Straßen zu entkommen. »Jetzt am Wochenende war es echt schlimm«, berichtet einer, der Marcel genannt werden will. Sein Gesicht ist stark gebräunt. In der Corona-Pandemie habe er seinen Job als Erzieher verloren, erzählt er. »Danach bin ich in eine Depression gerutscht, habe zu viele Drogen genommen.« Weil er irgendwann keine Briefe mehr öffnete, bekam er erst nicht mit, dass ihm die Wohnung gekündigt wurde. Nach Stationen in Wohnungslosenunterkünften schlafe er jetzt in einem Zelt im Park. Öffentliche Orte, an denen man sich der Hitze entziehen könne, gebe es kaum. »Im Einkaufscenter kommt spätestens nach einer halben Stunde ein Security-Mitarbeiter und fragt, ob man etwas gekauft hat«, sagt Marcel.

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An drei Tagen die Woche bietet das Kiezcafé etwas Abkühlung. Die Mitarbeiter verteilen Sonnencreme und Wassernäpfe für Hunde, im Erdgeschoss gibt es eine Kleiderkammer und Waschmaschinen. »Man kann hier alles Existenzielle abdecken«, sagt Leiterin Nadja Stodden. Auch warmes Mittagessen wird ausgegeben, heute gibt es die Auswahl zwischen Spaghetti Bolognese oder veganem Schnitzel. Gäste unterhalten sich, manche schauen mit müden Augen auf ihre Smartphones. An den Wänden hängen Bilder vom Einzug in die Räumlichkeiten, daneben eine Collage mit Portraitfotos. »Das sind die, die nicht mehr da sind«, sagt Stodden.

Das Kiezcafé ist ganzjährig geöffnet, im Winter bietet es Schutz vor Kälte. Für den Sommer habe man die Öffnungszeiten erweitert. »Viele Einrichtungen haben nachmittags geschlossen«, sagt Stodden. Notübernachtungsstellen setzten ihre Gäste zumeist frühmorgens auf die Straße. In diese Lücke stoße man mit dem Kiezcafé. Neben der Versorgung könnten die Wohnungslosen hier auch beraten werden. Dann gehe es darum, Obdachlose in Unterkünfte zu vermitteln oder Sozialleistungen zu beantragen. Manchmal stehen auch ganz praktische Probleme auf der Tagesordnung: »Neulich haben wir einem Gast geholfen, seinen Hund aus dem Tierheim zurückzubekommen«, sagt Stodden.

Regelmäßig machen die AWO-Mitarbeiter auch Ausflüge in den umliegenden Kiez rund um das Frankfurter Tor. Dann ziehen sie mit Bollerwagen durch die Straßen und verteilen kühle Getränke und Sonnensprays an Obdachlose. »Aufsuchende Hilfe« wird dies im Sozialarbeitsjargon genannt. »Viele von denen, die jetzt hier sitzen, haben wir das erste Mal bei einem solchen Austausch kennengelernt«, sagt Stodden. Während der Fußball-Europameisterschaft sei es häufig schwierig gewesen, Obdachlose im öffentlichen Raum zu finden. Denn viele seien von belebten Plätzen vertrieben worden. Die Frankfurter Allee sei »rigoros geräumt« worden, berichtet Stodden. »Dann brauche man Insider-Information, um die Obdachlosen zum Beispiel an ihren Schlafplätzen aufsuchen zu können.«

»Das Leben auf der Straße ist wie ein Marathon.«

Marcel Obdachloser

Für den Betrieb erhält das Kiezcafé 18 000 Euro von der Senatssozialverwaltung. Es ist das erste Jahr, in dem die Einrichtung im Rahmen der Hitzehilfe gefördert wird. Insgesamt würden stadtweit 23 verschiedene Projekte der Hitzehilfe mit 500 000 Euro unterstützt werden, sagt Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). Zu den geförderten Projekten gehören Einrichtungen, die Duschen anbieten. In einer anderen kommt alle zwei Wochen ein Friseur und bietet Haarschnitte an.

»Menschen ohne Obdach sind besonders stark von Hitze betroffen«, sagt Kiziltepe. Im Stadtkern liege die Temperatur wegen der dichten Bebauung häufig höher als in anderen Lagen. Das Problem verschärfe sich noch durch den Klimawandel. Dehydrierung, Sonnenbrände und Hitzschläge seien häufige medizinische Probleme, mit denen Obdachlose kämpfen müssten.

Bei der Auswahl der Projekte habe man auf eine »lebensnahe Versorgung« geachtet, sagt Carmen Rausch von der zuständigen Fachabteilung in der Sozialverwaltung. Daher seien sie über die ganze Stadt verteilt. »Bei 30 Grad kann man nicht noch stundenlang durch die Stadt laufen«, sagt sie.

Der Obdachlose Marcel ist glücklich über das Angebot. Er würde sich nur wünschen, dass das Kiezcafé auch am Wochenende geöffnet wäre. Denn eine Pause mache die Hitze am Wochenende nicht. »Das Leben auf der Straße ist wie ein Marathon«, sagt er.

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