Wie ich lernte, knöchelfreie Socken zu lieben

Textile Texte (6): Je introvertierter die Socke, desto extrovertierter ihr Träger

  • Markus B. Altmeyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Nackte Männerknöchel sind wie Autounfälle auf der Gegenfahrbahn.
Nackte Männerknöchel sind wie Autounfälle auf der Gegenfahrbahn.

Wir leben ja in einer Zeit der Triggerwarnungen. Von politisch inkorrekten Otto-Witzen bis hin zu retraumatisierender Liebes-Lyrik – vor allem und jedem wird
gewarnt. Und zwar sorgfältig und frühzeitig. Ich finde das gut. Denn wenn man nicht rechtzeitig gewarnt wird, ist es schnell zu spät: Dann hat man die Bilder bereits im Kopf und bekommt sie auch nicht mehr raus. Mit Hilfe von präventiven Texttafeln im Fernsehen, sensiblen Anmoderationen auf Veranstaltungen und leuchtenden Aufklebern auf Buchcovern wird von allen Seiten darauf geachtet, dass ich mich nicht mit irgendetwas auseinandersetzen muss, das mich verstören könnte.

Nur vor den modischen Verirrungen anderer Leute, da warnt mich niemand. Dabei kann auch das mehr als verstörend sein: Da läuft einem so ein Sportstudent mit knöchelfreien Socken vor die Linse und man kriegt die Bilder bis zum Lebensende nicht mehr aus seinem Kopf. Außer vielleicht mit Demenz. Ständig wird man genötigt, ästhetische Grenzerfahrungen zu machen, auf die man gut und gerne hätte verzichten können. Hätte man vorher gewusst, was da auf einen zukommt, hätte man das Haus gar nicht erst verlassen! Nackte Männerknöchel in Sneakern sind wie Autounfälle auf der Gegenfahrbahn. Es wäre besser, nicht hinzugucken. Zumal das Kind dann immer fragt: »Papa, was ist das? Das sieht ja furchtbar aus!«

Textile Texte

Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.

Ich meine: Wer erfindet sowas? Knöchelfreie Socken sind Strümpfe, die sich selbst negieren, die nicht gesehen werden wollen, die tief im Schuh verschwinden und sich von ihm regelrecht verleugnen lassen. Wären knöchelfreie Socken
Menschen, würde man ihnen empfehlen, sich auf der Stelle in Therapie zu begeben. Sich selbst klein machen, in der Unsichtbarkeit verschwinden wollen und möglichst selten an die frische Luft gehen – als introvertierter Soziophobiker mit Selbstwertproblemen müsste mir das eigentlich sympathisch sein. Ich meine: Knöchelfreie Socken sind der textilgewordene Minderwertigkeitskomplex. Das ist doch zutiefst liebenswürdig und schutzbedürftig. Wieso dann diese Abneigung?

Vielleicht weil genau solche Leute eben nicht in diesen Socken stecken. Im Gegenteil. Es sind Sportstudenten, Start-up-Kapitalisten und FDP-Sympathisanten, die diese Mode für gut befinden. Man könnte sogar die These wagen: Je introvertierter die Socke, desto extrovertierter ihr Träger. Es sind Menschen, deren Egos so groß sind, dass sie draufklettern und sich in den Abgrund stürzen könnten, wenn sie wollten, was sie natürlich nicht tun, denn dafür sind sie viel zu selbstverliebt. Man kann es auf dem Video zwar nicht erkennen, aber mich würde es nicht wundern, wenn auch die Luxus-Nazis von Sylt in knöchelfreien Socken steckten.

Selbst wenn sie rot sind, haben knöchelfreie Socken jedenfalls nichts Antikapitalistisches an sich. Im Gegenteil: Sie sind wie die Müslipackungen, die immer kleiner werden, bei gleichbleibendem Preis. Knöchelfreie Socken sind die
Mogelpackung des Monats. Effizienzmaximierung aus Baumwolle. Der Sparstrumpf des Kapitalisten wird im gleichen Maße größer, wie die Socke des Verbrauchers immer kürzer wird. Aber das alles merkt der Verbraucher natürlich nicht. Denn gleichzeitig wird – wie immer im Spätkapitalismus – suggeriert, dass man genau das braucht, wenn man in dieser Gesellschaft erfolgreich sein will. Wie gut, dass Adorno das nicht mehr erleben muss. In diesen Socken stecken die Jünger der Leistungsgesellschaft. Elitäre und ignorante Männer, die ihre Knöchel für unwiderstehlich halten.

Doch dann sehe ich plötzlich diese Talkshow mit diesem eloquenten Philosophen, der knöchelfreie Socken trägt und trotzdem kluge Dinge sagt. Wie kann das sein? Hat der Sender ihn in das Kostüm genötigt, um den kapitalistisch-ideologischen Verblendungszusammenhang aufrechtzuerhalten? Oder sind die Dinge am Ende doch komplexer, als ich dachte? Netter Typ in knöchelfreien Socken – ist das die Ambiguitätstoleranz, von der alle immer sprechen? Vielleicht sollte man nicht immer gleich vom Knöchel auf den ganzen Menschen schließen?

Ich habe das Gefühl, mit knöchelfreien Socken verhält es sich ein bisschen so wie mit der hohen Literatur. Die darf auch mal verstörend sein. Sie soll es sogar. In Text und Textil kann man die Abgründe des Menschseins beleuchtet sehen, ohne sie leibhaftig durchleben zu müssen. Letztlich würde ich sagen, haben mich die knöchelfreien Socken sogar zu einem besseren Menschen gemacht. Die Beschäftigung mit dem Stoff (oder vielmehr: mit dessen Abwesenheit) hat meinen Horizont erweitert und meine Toleranz geschärft. Auch wenn ich heilfroh bin, diese strumpfgewordene Geschmacksverirrung dafür nicht selbst getragen haben zu müssen.

Vielleicht muss man sich manchmal mit den Dingen, die einen zutiefst verstören, konfrontieren, um sich ein kleines bisschen weiterzuentwickeln. Ich denke, morgen werde ich es wagen und mir – trotz aller Warnungen – endlich die alten
Otto-Shows ansehen. Gemütlich auf der Couch, in meinen Lieblingsstrumpfhosen.

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