Kein Platz unter dem Himmel

Ordnungsamt forciert Räumung Dutzender Obdachlosencamps in Pankow

  • Ralf Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.
Lieber hier als in der Unterkunft: Das Hochbahnviadukt an der Schönhauser Allee ist ein beliebter Platz für Obdachlose.
Lieber hier als in der Unterkunft: Das Hochbahnviadukt an der Schönhauser Allee ist ein beliebter Platz für Obdachlose.

Die Situation auf dem Berliner Mietmarkt ist desaströs. In der Bundeshauptstadt werden durchschnittlich 17,64 Euro pro Quadratmeter bei Neuvertragsmieten gezahlt und somit nach München die zweithöchsten Mieten in Deutschland. Allein im letzten Quartal 2023 sind die Mieten um 3,6 Prozent gestiegen. Erst kürzlich verkündete der Immobilienkonzern Vonovia eine geplante Mieterhöhung in seinem Bestand, zum Teil um bis zu 15 Prozent.

»Nach unserer Schätzung können wir derzeit von rund 60 000 Wohnungslosen in Berlin ausgehen«, erklärte Kai-Gerrit Venske, Fachreferent für Wohnungslosenhilfe bei der Caritas, Ende 2023 gegenüber dem »Mieter-Magazin«. 47 300 Personen haben in Unterkünften einen Platz gefunden. Der Rest übernachtet auf der Straße. »Allein die Straßenobdachlosigkeit hat im letzten Jahr innerhalb unserer Projekte um rund 2600 Fälle zugelegt«, so Venske weiter. Dafür gibt es viele Gründe.

»Obdachlose Menschen sind in der Regel deshalb draußen, weil sie die zwangsgemeinschaftlichen Massennotunterkünfte als menschenunwürdig ablehnen«, berichtet Stefan Schneider von der Wohnungslosen-Stiftung gegenüber »nd«. Nur zu oft seien Gemeinschaftsunterkünfte Orte der Gewalt. Gut zwei Drittel der obdachlosen Menschen berichten laut Schneider »von negativen Erlebnissen und Gewalterfahrungen in Notübernachtungen«, weshalb viele Betroffene auf der Straße übernachten. Hier sind sie allerdings Wind, Wetter und den ordnungsrechtlichen Maßnahmen der Lokalpolitik ausgesetzt.

Vor gut einem Jahr wurde ein Camp mehrerer Dutzend Obdachloser in der Nähe der Kleingärten am Hauptbahnhof geräumt. Als Grund dafür wurden die mangelhaften hygienischen Zustände angeführt. »Der Umzug der rund 70 Bewohnenden des ehemaligen Camps am Geschichtspark in der Nähe des Hauptbahnhofs konnte erfolgreich abgeschlossen werden«, teilte damals die Bezirksbürgermeisterin von Mitte, Stefanie Remlinger (Grüne), mit. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Mitte Juli veröffentlichte das Bezirksamt Pankow eine Pressemitteilung über die Schwerpunkteinsätze der letzten Monate »zur Beräumung von Obdachlosencamps«. Mittes Nachbarbezirk berichtet darin, dass das Ordnungsamt allein in diesem Jahr 30 Einsätze im öffentlichen Straßenland durchgeführt habe. Hauptsächlich betreffe dies die Schönhauser Allee unter dem Viadukt, die Unterführung am S-Bahnhof Greifswalder Straße und verschiedene Grünanlagen, beispielsweise den Helmholtzplatz sowie den Blankensteinpark. Bei zehn weiteren Einsätzen in Grünanlagen wurde laut Bezirksamt das örtlich zuständige Straßen- und Grünflächenamt von Dienstkräften des Ordnungsamtes unterstützt.

»Ursache der kritisierten Vermüllung sind in der Regel nicht die obdachlosen Menschen selbst, sondern sehr häufig Menschen aus der Nachbarschaft.«

Stefan Schneider Gesellschaft für die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen

Gerade das zwischen 1909 und 1930 erbaute Hochbahnviadukt der heutigen U-Bahnlinie 2 in Prenzlauer Berg wurde in den letzten Monaten ein beliebter Platz für Obdachlose. Hier finden sie zumindest etwas Schutz vor Regen, Wind und Kälte. Die Bezirksstadträtin für Ordnung und Öffentlichen Raum in Pankow, Manuela Anders-Granitzki (CDU), argumentiert, dass an den betreffenden Örtlichkeiten eine »zunehmende Müllkonzentration« zu beobachten sei. In der wärmeren Jahreszeit sollen sich auch die Beschwerden wegen eintretender Geruchsbelästigungen häufen.

Dem widerspricht Schneider im Namen der Gesellschaft für die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen: »Ursache der kritisierten Vermüllung sind in der Regel nicht die obdachlosen Menschen selbst, sondern sehr häufig Menschen aus der Nachbarschaft, die irgendwelche Dinge (abgetragene Kleidung, heruntergekommene Matratzen, defekte Möbel, aber auch Lebensmittelreste und Weiteres mehr) ungefragt dazustellen.« Außerdem müssten die Menschen auf der Straße schon wegen der Erhaltung der Gesundheit sehr genau auf Hygiene achten. Deshalb seien auch die Schlafplätze in der Schönhauser Allee unter dem U-Bahn-Viadukt so attraktiv, weil sich in der Nähe ein öffentlich zugängliches kostenloses Urinal befindet.

Öffentliche und kostenfreie Toiletten in der Innenstadt sind aus Sicht von Schneider unzureichend vorhanden. Leer stehender Wohnraum sei im Kiez hingegen vorhanden. »In der Pappelallee steht seit 2019 ein Haus leer, das 1891 von der Ordensgründerin Marie Tauscher erworben wurde, um dort ein ›Heim für Heimatlose‹, ein Haus für hilfsbedürftige und arme Kinder zu betreiben.« Das St.-Josefsheim wurde bis vor fünf Jahren als Altersheim genutzt, dann aus Brandschutzgründen aufgegeben.

»Die Räumung eines Obdachlosencamps führt in den meisten Fällen weder dazu, dass den Menschen tatsächlich geholfen wird, noch dass die Konflikte mit den Anwohnenden gelöst werden«, teilt der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bezirk Pankow, Maximilian Schirmer, »nd« mit. Das Problem verschiebe sich nur. Schirmer zufolge entsteht jedes Camp, das an einer Stelle aufgelöst wird, an anderer Stelle neu, »wenn keine nachhaltigen Hilfsangebote gemacht werden«. Während die CDU-Stadträtin sehr schnell dabei gewesen sei, ein Camp zu räumen, »hat eine Mehrheit von Grünen, CDU und FDP während der Haushaltsverhandlungen eine dauerhafte Finanzierung der aufsuchenden Straßensozialarbeit in Pankow abgelehnt«. Mit einer kleinen Anfrage will die Linksfraktion Pankow klären, unter welchen Umständen diese Räumungen durchgeführt wurden.

»In einer auf Eigentum und Profit beruhenden Gesellschaft, die auch Wohnungen als profitable Ware betrachtet, sind Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit eine notwendige Folge«, stellt Stefan Schneider von der Wohnungslosen-Stiftung fest. Die Aussage der Stadträtin Manuela Anders-Granitzki, wonach Obdachlosigkeit ein »schwerer Schicksalsschlag« sei, ist aus Sicht von Schneider »nachgewiesenermaßen falsch und irreführend und lenkt ab von tatsächlichen Ursachen«.

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