»Im Duft des Teerwerks«

Der Erkneraner Frank Retzlaff über seinen Zugang zur Geschichte

  • Interview: Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Stadtgeschichte: »Im Duft des Teerwerks«

Wann begann es, dass Sie sich für die regionale Industriekulturgeschichte interessiert haben?

Ich habe mich schon in meiner Diplomarbeit mit Erkner befasst. Der Schwerpunkt war die Eisenbahnentwicklung und der Bahnhof. Da war natürlich die Industriegeschichte mit dabei.

Hat es für Sie mit dem Wohnen am Stadtrand zu tun?

Von den ganz frühen Prägungen sicher, aber zur Zeit meines Studiums und die Hauptzeit meines Berufslebens habe ich gar nicht in Erkner gewohnt.

Also eher eine Kindheitsprägung?

Das ist gut möglich! Ich bin gewissermaßen als Erkneraner mit dem »Duft des Teerwerks« aufgewachsen. Bei Westwind, der ja meistens weht, konnte man dem nicht entkommen. In der Biografie von Gerhart Hauptmann, der ja in Erkner einige Jahre lebte, stand aber noch, dass die Abgase der Teerproduktion gesund seien. Ich selbst habe etwas abseits im Grünen gelebt, idyllisch.

Irgendwann entfaltete sich Ihre Leidenschaft?

Das war dann 1983/1984 im Studium. Nach der Wende, wo ja schon gleich 1992 das Teerwerk geschlossen wurde, habe ich mich für den Erhalt des Rütgers-Hochhauses, ein markanter Klinkerbau gegenüber dem Bahnhof, eingesetzt. Auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft präsentierte ich ein Konzeptpapier für den Erhalt des Gebäudes. Hier kamen Leute zusammen, die sich für die museale Entwicklung der Industriestandorte in Mildenberg und Rüdersdorf einsetzten. Sowohl Mildenberg als ehemalige Ziegelproduktion als auch Rüdersdorf sind längst überregional bekannte Museumsstandorte geworden. In Erkner gab es dafür keinerlei Unterstützung. Der Rütgers-Turm wurde 1995 abgerissen. In den Neunzigern wollten die Erkneraner von Chemie nichts mehr wissen und waren froh, dass alles schnell weg war. 2003 haben wir dann angefangen als Chemieverein, die Bedeutung und Geschichte der Chemieproduktion, die mit der 1860 gegründeten »Teerproductenfabrik« begann, wieder in die Köpfe zu bringen. Im Übrigen gibt es nach mehreren Eigentümerwechseln das Tochterunternehmen – 1910 als Bakeliteproduktion gegründet – heute noch. Es geht mir allerdings nie allein um die Industrie, sondern um die verschiedenen Bestandteile der Stadtentwicklung.

Welche Phasen der Entwicklung in Erkner haben Sie besonders interessiert?

Für mich sind die Anfänge immer das Spannende – und die Frage »Warum?« Warum zum Beispiel erhielt Erkner 1842 einen Bahnhof, obwohl es für einen »Weiler« mit dreihundert Einwohnern, zumeist Schiffer, völlig unüblich war. Der Einstieg in die Industriegeschichte begann mit dem Blick auf die Gründung des Teerwerks. Dann folgte die Bakeliteproduktion, allein ob des Sachverhaltes zweier Patente, die mit nur vierzehn Tagen Differenz in den USA beziehungsweise in Deutschland angemeldet wurden, sehr spannend. 1938 kam als Verhängnis für Erkner das Kugellagerwerk, das ein wesentlicher Rüstungszulieferer in der NS-Zeit und 1944 zum Ziel der Bombenangriffe durch die Amerikaner wurde. Getroffen und zerstört wurde aber vor allem das Ortszentrum. Dazu habe ich drei Vorträge allein in diesem Jahr gehalten.

Was hat Sie denn zur Geschichte generell geführt?

Es war eher nicht der Geschichtsunterricht, sondern das »Mosaik«, die Comic-Hefte mit den Figuren Dig, Dag und Digedag von Hannes Hegen. Wir hatten ein Abo. Ich hatte das Mosaik also monatlich zu Hause und bin mit der Karte in der Hand ins Morgenland gereist. Ich liebte es, die Abenteuer im Atlas nachzufahren nach Venedig, Dalmatien und Istanbul oder Rom. Später gab es noch eine Amerika-Serie und ich wurde ein richtiger Amerika-Fan. Als Abiturient habe ich dann die Bücher von Victor Großmann verschlungen. Ich wollte immer nach New York, war aber bis heute nicht dort.

Aber Sie waren viel unterwegs?

Ja, und immer per Zufall! Mit Freunden oder Kollegen kam ich nach Australien, war auf den Galapagosinseln, vor zwölf Jahren in Namibia, wo ich gemeinsam mit Freunden im Auto bis zu den Viktoria-Wasserfällen gereist bin.

Ihre eigentliche Leidenschaft war und ist die Geschichte. Sie wollten Historiker werden?

Genau! Ich kam ja nicht aus einem Akademikerhaushalt, sondern aus einer Handwerkerfamilie und hatte keine Ahnung vom Studium. Ich dachte, die Geschichtslehrer schreiben auch die Geschichtsbücher. Weit gefehlt! Aber wofür ich als Lehrer keine Zeit hatte, kann ich jetzt nachholen.

Was bleibt für Sie von der Uni?

Wir hatten eine tolle Ausbildung! Im Nachhinein ist mir erst richtig bewusst geworden, wie liberal das Studium an der Humboldt-Universität damals schon war. Allein schon die Entwicklung des Rahmenplanes für den Unterricht u.a. mit Reizwörtern wie »17. Juni«.

Es war auch die Zeit einer neuen Preußen-Erweckung. Es schien ein Paradigmenwechsel hin zu mehr Offenheit?

Ganz massiv. Ich habe 1980 mit dem Studium begonnen. Ich kam durch die Armeezeit erst zwei Monate nach meinen Kommilitonen, und da saß ich eines Tages im Historiker-Lesesaal im Hauptgebäude und guckte durch das Fenster in Richtung Unter den Linden und plötzlich schwebt da eine Reitergestalt vorbei. Das war so eine Szene wie später im Film »Good Bye, Lenin!«. Nur umgekehrt. Im Film schwebt der Leninkopf davon. Die Szene mit dem einschwebenden Alten Fritz werde ich nie vergessen. Ich wollte mich dann auch auf Friedrich spezialisieren. Es war kurz vor der 750-Jahr-Feier Berlins und ein neuer Forschungsbereich wurde aus dem Boden gestampft. Aber ich konnte weder Latein noch Französisch.

Das historische Ereignis »Mauerfall«, wie haben Sie das erlebt?

1989 war ich Schulleiter, erst stellvertretender, aber durch besondere Umstände musste ich dann fast das ganze Jahr den Direktor vertreten. Der 4. November war für mich der eigentliche Höhepunkt. Leipzig war weit weg. Aber am 4. November, das war ja ein Sonnabend, ging es darum, ob wir als Lehrer mit den Schülern zum Alex fahren. Das schien zu riskant. Die Entwicklung war nicht absehbar. Eine Woche später fiel dann die Mauer. Am 9. November holte ich meine Frau von der Arbeit ab. Wir fuhren nach Schönefeld, wo es einen »Intershop« gab, und ich kaufte mir vom Geburtstagsgeld, das mir meine Hamburger Oma immer schickte, eine Tina-Turner-LP. Den ganzen Abend lang hörten wir kein Radio. Der Fernseher blieb aus. Nur Tina Turner immer wieder von vorn. Am nächsten Morgen hörten wir die Nachrichten. Am 10. November bin ich mit anderen zum Brandenburger Tor gefahren. Gänsehaut. Die Einheit ging mir dann viel zu schnell.

Meistens sind Ihre Vorträge zur Stadtgeschichte ausverkauft. Geht es darin um Geschichte als Unterhaltung?

Ich muss erst mal sagen, dass ich nie nur meinen Ort betrachtet, sondern die Nachbarorte einbezogen habe. Also ich hebe den Blick über den Tellerrand hinaus, um historische Zusammenhänge sichtbar zu machen. Ich möchte das Publikum an meinem Wissen teilhaben lassen. Nicht nur an den recherchierten Fakten und Geschichten, vor allem am Umgang mit historischen Quellen und Zeitzeugenberichten.

Gibt es für Sie einen objektiven Zugang zu den Daten?

Eher nicht. Aber ich bemühe mich darum, nie nur eine einzige Quelle sprechen zu lassen. Quellenpluralität und dadurch einen Perspektivreichtum zu haben, ist ein Grundsatz von mir.

Ist es Hobby, oder doch Beruf?

Für mich ist es eine Profession, obwohl ich vom Beruf her Lehrer und kein Historiker bin.

Interview

Frank Retzlaff, Jahrgang 1958, studierte Geschichte und Geografie an der Humboldt-Universität sowie an der Freien Universität Berlin. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer hält er seit über 20 Jahren Vorträge zur Regionalgeschichte Erkners. Seit 2012 leitet er ehrenamtlich das dortige Historische Stadtarchiv.

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