»The Decameron«: Im Herz der verheerendsten Pandemie aller Zeiten

Zwischen Mel Brooks und Monty Python: Die Serie »The Decameron« macht sich über Adlige lustig, die der Pest entfliehen wollen

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
So viel Emanzipation gab es im 14. Jahrhundert wohl nicht wirklich.
So viel Emanzipation gab es im 14. Jahrhundert wohl nicht wirklich.

Eskapismus hat nicht nur zerstreuende, sondern oft auch therapeutische Wirkung. Wer durch Fußball, Lifestyle, Katie Fforde dem Alltag entfliehen will, wird von RTL, Instagram, ZDF schließlich unterhaltsam auf Abzweige vorbehaltloser Realitätsverweigerung geleitet, die das Elend da draußen unsichtbar machen. Sehr heilsam.

Mitunter lotst das Eskapismus-Angebot sein Publikum aber auch auf ungesunde Weltfluchtrouten, die eher Highways to Hell sind. Oder die wie im tragikomischen Netflix-Achtteiler »The Decameron« ins finstere Herz der verheerendsten Pandemie aller Zeiten führen: der »Schwarze Tod« der Pest.

Mitte des 14. Jahrhunderts, eine ebenso gottesfürchtige wie gottlose Zeit, raffte das Bakterium Yersinia pestis rund 25 Millionen Menschen aller Klassen und Schichten dahin – ein Viertel der europäischen Bevölkerung und Abertausende davon in Florenz, dem von Giovanni Boccaccio. Darüber hat der Dichter 1349 »Il Decamerone« geschrieben, zu Deutsch: Zehn Tage. Deshalb umfasst dieses Werk auch zehn Novellen à zehn Szenen. Boccaccio malt darin bildgewaltig die Hölle auf Erden aus, versieht sie allerdings mit einem Notausgang.

In der Serie hat der fiktive Fürst Leonardo befreundete Aristokraten auf sein schickes Landgut nahe Florenz geladen. Während sich die Leichen dort stapeln, erwartet die Schar Privilegierter ein herrschaftliches Gelage im Luxus – theoretisch. Praktisch hat die Seuche auch das feudale Refugium längst erreicht. Nicht nur der Hausherr, auch ein Großteil seiner Angestellten sind ihr zum Opfer gefallen. Fürs leibliche Wohl sorgen nur noch der Major Domus Sirisco (Tony Hale) und die Köchin Stratilia (Leila Farzad).

Die Pest ist nicht das einzige Problem dieser illustren Schar wirklichkeitsflüchtiger Edelleute. Denn je mehr sie die Augen vor der siechen Realität verschließen, desto klarer erkennen sie ihre eigenen Abgründe. Worin die bestehen, hatte schon 1975 niemand Geringeres als Pier Paolo Pasolini gezeigt – in seinem Skandalwerk »Die 120 Tage von Sodom«, als er die Handlung in die Zeit des italienischen Spätfaschismus verlegte: in die »Republik von Salò«, in die sich Mussolini 1943 nach Norditalien unter dem Schutz der Wehrmacht zurückgezogen hatte, nachdem ihn in Rom die eigenen Leute gestürzt hatten. Pasolini zeigt eine morbide Bourgeoisie, die sich an sexueller Ausbeutung und Folter delektiert, was in mehreren Ländern zum Verbot des Films führte, der zugleich Pasolinis letzter war.

Zwei, drei Emanzipationsbewegungen und drei, vier Porno-Portale später reichen fünf, sechs explizite Sexszenen zwar längst nicht mehr für Ausstrahlungsverbote. Aber auch Regisseur Michael Uppendahl macht aus den Drehbüchern seiner Hauptautorin Kathleen Jordan ein Werk, das mit dem Voyeurismus der Zuschauenden spielt. Anders als Boccaccio und Pasolini karikieren sie die Figuren als Knalltüten in einer dionysischen Groteske und siedeln sie habituell – nicht nur wegen der Originalsprache Englisch – eher in der Gegenwart als im Mittelalter an.

Leonardos Verlobte Pampinea (Zosia Mamet) nebst Hausmagd Misia (Saoirse-Monica Jackson), die fromme Neifile (Lou Gala) und ihr keuscher Gatte Panfilo (Karan Gill), der Hypochonder Tindaro (Douggie McMeekin) und sein sexy Leibarzt Dioneo (Aman Chadha-Patel) oder das Dienstmädchen Licisca (Tanya Reynolds), die sich als ihre Herrin Filomena (Jessica Plummer) ausgibt – sie alle könnten genauso gut einer durchgeknallten Geschichtskomödie von Mel Brooks entstammen.

Zum Glück aber orientiert sich Uppendahl humoristisch eher an Monty Python. Und er nutzt seine Serien-Regieerfahrung aus »Mad Men« oder »Fargo« auch dafür, Sexualität und Gewalt so zu ästhetisieren, dass beides zwar ganz schön drastisch wirkt, aber selten die Deutungshoheit über die Erzählung gewinnt. In der nämlich geht es bei aller Erotik, die dank solcher Serien wie »Rom« oder »Game of Thrones« bis »Bridgerton« längst zum guten Fernsehton gehört, auch um die Gesellschaft ringsum.

So aberwitzig Charaktere und Kulissen, Dialoge und Ausstattung auch wirken, kommentieren sie mindestens nebenbei die Bigotterie einer Epoche, in der Adel, Klerus und Staat zwar vom Pöbel Sitte und Anstand forderten, persönlich aber jederzeit moralfrei agierten. Wie Uppendahl diese Verlogenheit in mal vulgäre, oft brutale, am Ende aber meist lächerliche Bilder packt – das ist zutiefst entlarvend und damit oft brüllend komisch. Ob man über die tödlichste Pandemie aller Zeiten und ihre Opfer lachen darf, ist dabei zweitrangig, solange sich die Serie vor allem über Stärkere lustig macht – und das tut sie unentwegt.

Dabei lässt die Serie allerdings keine Figur ungeschoren – egal wie handlungsrelevant sie ist. Nur so viel: Eine Fortsetzung ist eher unwahrscheinlich. Schade eigentlich. Die zehn Tage von »The Decameron« sind nämlich nicht nur ziemlich amüsant, sie geben dem Begriff Eskapismus auch eine ganz neue Bedeutung.

Läuft auf Netflix.

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