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Türkischer Überfall im Irak

Durch die militärische Besatzung wird die Existenz der kurdischen Autonomieregion infrage gestellt

  • Thomas Schmidinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Im April trafen sich der Präsident der Region Kurdistan im Irak, Nechirvan Barzani, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im kurdischen Erbil.
Im April trafen sich der Präsident der Region Kurdistan im Irak, Nechirvan Barzani, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im kurdischen Erbil.

Lesen Sie zum Thema auch die Rojava-Reportage von Anita Starosta und das Interview mit dem Kurdischen Halbmond über den türkischen Drohnenkrieg.

Von internationaler Presse und Politik weitgehend ignoriert, hat die türkische Armee seit Mitte Juni größere Teile der irakisch-kurdischen Provinz Dohuk sowie zur Provinz Erbil zählende Grenzgebiete besetzt. Schon bisher war die Türkei mit einer Reihe von Militärbasen in der Autonomieregion Kurdistan sowie in der von der Zentralregierung verwalteten Stadt Bashiqa im Irak präsent. Doch jetzt besetzt sie erstmals besiedelte Gebiete und Verkehrsverbindungen.

Türkische Angriffe auf die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans PKK forderten im Norden des Irak in den vergangenen Jahren immer wieder zivile Opfer und führten zu Fluchtbewegungen aus den grenznahen Gebieten. Seit dem 25. Juni geht das allerdings deutlich weiter. Mit der Errichtung eines Checkpoints zwischen den Dörfern Kani Bilave und Babire tritt die Türkei nun offen als Besatzungsmacht im Irak auf.

Die türkische Offensive begann in der Region Berwarî nördlich von Amêdî, wo es auch sehr viele christlich-assyrische Dörfer gibt – der letzte Rest des ursprünglichen Siedlungsgebiets der Assyrer*innen vor dem Genozid von 1915. Diese Region galt über Jahrhunderte als assyrisches Kernland. Der Stamm der Tyari, der einen besonders widerständigen Ruf besitzt, kehrte nach dem Genozid an den Assyrer*innen hierher zurück, musste aufgrund der Kämpfe zwischen Kurd*innen und irakischer Armee in den 80er Jahren allerdings erneut vorübergehend aus der Region fliehen. Stark betroffen von der türkischen Offensive ist des Weiteren auch der kurdische Bradost-Stamm in der Region Sîdekan im extremen Nordosten des Irak sowie die Region um Dereluk westlich von Barzan.

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Während die türkische Regierung bei Angriffen auf die PKK-Guerilla bisher auf eine Kooperation mit der eher konservativen, von der Barzani-Familie kontrollierten Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) setzte, hat es nun den Anschein, dass die Regierungspartei Irakisch-Kurdistans vor großen Militäraktionen von Ankara nicht mehr konsultiert wird. Die Türkei beruft sich dabei auf ein Abkommen, das im März dieses Jahres zwischen ihrem Außenminister und früheren Geheimdienstchef Hakan Fidan (der selbst kurdischer Herkunft ist) und der irakischen Regierung ausgehandelt und kurze Zeit später bei einem Erdoğan-Besuch in Bagdad unterzeichnet wurde.

Insgesamt 26 Kooperationsvereinbarungen wurden damals von beiden Regierungen unterschrieben. Der Ausbau der Handelsbeziehungen wurde in diesem Zusammenhang ausdrücklich an die Bedingung einer engeren Sicherheitskooperation geknüpft. Insbesondere die geplante Straßenverbindung »Iraq Development Road«, die den Hafen in Faw am Golf mit der Türkei und damit auch mit Europa verbinden soll, wurde an die Bereitschaft des Irak gebunden, der Türkei im kurdischen Norden freie Hand zu lassen.

Die Autonomieregierung von Irakisch-Kurdistan wird von Ankara vor großen Militäraktionen offenbar nicht mehr konsultiert.

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Die Leidtragenden dieses Deals über die Köpfe der Kurd*innen hinweg sind einmal mehr die Menschen in der Region. Insgesamt sind über 600 kurdische und assyrische Ortschaften von der türkischen Invasion betroffen, fast 200 Dörfer wurden bereits evakuiert. Die Angriffe richten sich auch gegen die zivile Infrastruktur. So wurde im Dorf Mizhe eine Schule und im Dorf Mishka ein Gotteshaus der Assyrischen Kirche getroffen. Zudem wurden bis Ende Juli über 6000 Hektar landwirtschaftliche Fläche durch die türkischen Angriffe zerstört oder schwer beschädigt.

Seit Mitte Juli dringt die türkische Armee nun auch verstärkt in den Gara-Bergen, südlich der Verbindungsstraße von Dohuk nach Amêdî vor. Sollte sich die Türkei auch dort dauerhaft etablieren, würde sie damit das historische Kernland der Badinan-Region von der heutigen Provinzhauptstadt Dohuk abtrennen und mehr als die Hälfte der Provinz Dohuk besetzen.

Bisher gelang es der Türkei dabei allerdings nicht, die PKK aus der Region zu vertreiben. Die Guerilla konnte der türkischen Armee insbesondere in den Berggebieten empfindliche Schläge zufügen. In letzter Zeit gelang es kurdischen Aufständischen auch erstmals, Luftangriffe auf türkische Militärtransporte durchzuführen.

Verschärft wird die Situation durch den Einsatz syrischer Söldner in den Reihen der türkischen Armee. Nach irakisch-kurdischen Geheimdienstquellen setzt sich etwa ein Drittel der türkischen Truppen aus syrisch-islamistischen Milizen zusammen, darunter auch dem »Islamischen Staat«. Besonders fatal ist dies für die in der Region lebenden Christ*innen.

Das Ziel der Türkei ist offensichtlich, im Nordirak eine Besatzungszone ähnlich wie der im Norden Syriens zu errichten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Verteidigungsminister Yaşar Güler sprechen mittlerweile offen von einer 30 bis 40 Kilometer breiten Sicherheitszone, die man längerfristig kontrollieren will.

Mit der Patriotischen Union Kurdistans hat bereits eine der beiden großen kurdischen Parteien ihre Mitglieder aus den besetzten Regionen abgezogen. Lediglich die PDK, die den Norden dominiert, ist noch präsent. Wie unter diesen Bedingungen die für Oktober angesetzten Wahlen für das Parlament der Autonomieregion Kurdistan durchgeführt werden können, steht in den Sternen. Unter türkischer Besatzung werden faire Wahlen mit Sicherheit nicht möglich sein. Wenn nach über zwei Jahren ohne Parlament die Wahlen aber auch im Oktober nicht stattfinden können, gefährdet dies die Existenz der Autonomieregion Kurdistan als solche. Die Türkei könnte damit weit über das von ihr besetzte Gebiet hinaus die politische Situation zu Ungunsten der Kurd*innen verändern.

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