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Schuften unter elenden Bedingungen
Kein anderes Land hat so viele moderne Sklaven wie Indien
»Der Tag unserer Rettung war surreal. Die Freiheit fühlte sich wie ein unglaubliches Geschenk des Lebens an«, blickte Nandini (35) Anfang Oktober 2023 gegenüber dem britischen »Guardian« zurück. Noch nicht lange war es da her, seit sie und ihr Mann Ramesh (40) von der Adivasi Hukkagala Samanvaja Samiti (AHSS) gemeinsam mit der Polizei aus der Schuldknechtschaft befreit wurden – zehn Jahre hatten sie auf einer Kaffeeplantage im Südosten des indischen Unionsstaates Karnataka schuften müssen. Zwar verdienten sie pro Tag 100 Rupien (etwa 1,10 Euro), hatten aber einen Kredit von 25 000 Rupien (280 Euro) abzuarbeiten, der durch Zinsen immer weiter anwuchs. Die AHSS ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung, offiziell als Scheduled Tribes (ST) oder mehr umgangssprachlich unter dem Begriff Adivasis zusammengefasst, einsetzt. Seit ihrer Gründung 2011 hat sie in Kodagu, einem der wichtigsten Kaffeeanbaudistrikte des Landes, schon über 1500 Menschen aus der modernen Sklaverei befreit.
Anwalt der Freiheit
Auch Thaiyamma und ihre Familie können inzwischen glücklich lachen. Sie haben ein ähnliches Schicksal hinter sich: Das Darlehen, um ihre kranke Tochter zu behandeln, hatte sie und ihren Mann in die Schuldknechtschaft getrieben. Beim Kochen erzählt sie der kleinen Lavanya, wie es war, in einer Holzfällerei tagtäglich viele Stunden schuften zu müssen, scheinbar ohne jede Aussicht auf ein Entkommen. Zur Arbeit gezwungen auch dann noch, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war, und immer wieder geschlagen vom Boss, den sie wegen seiner Brutalität nur »die Bestie« nannten. Durch eine Razzia, bei der Thaiyamma den Mut fand, auf ihr Los aufmerksam zu machen, kamen sie frei. Und Bablu, Lavanyas kleiner Bruder, wurde bereits in Freiheit geboren.
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Das erklärt Thaiyamma ihrer Tochter in einem Video, das auf der Internetseite von IJM Deutschland verlinkt ist. Auch der Verein mit Sitz in Berlin, der sich im Untertitel Anwalt der Freiheit nennt, hat sich gemeinsam mit lokalen Partnern dem Ziel verschrieben, indienweit Menschen in Schuldknechtschaft aufzuspüren und zu befreien, aber auch politische Lobbyarbeit zu betreiben sowie Seminare für Polizeikräfte und Mitarbeitende der Justiz anzubieten. Über 100 000 Beamte habe man so schon geschult, heißt es bei IJM, und mehr als 23 000 Menschen konnten dank des Engagements vieler Beteiligter ihre Freiheit wiedererlangen.
Substanzielle Fortschritte bleiben aus
So groß diese Erfolge anmuten, auch bei weiteren Organisationen neben diesen zwei Beispielen: Gemessen an der Gesamtzahl der Betroffenen ist dies nur ein ganz kleiner Teil. Vom Ziel, 18,4 Millionen Menschen in Schuldknechtschaft bis 2030 zu befreien, hatte die indische Zentralregierung bereits 2016 gesprochen – eine Zahl, die sich in dieser Dimension mit Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Menschenrechtsaktivist*innen und diverser NGOs deckt. Demgegenüber, geht aus einem 2023 im Parlament vorgelegten Bericht hervor, wurden seit 1978 aber nur 315 000 Menschen aus solchen Verhältnissen hausgeholt. Im Rahmen ihrer Rehabilitation haben sie Anspruch auf Zahlung einer Hilfe von 200 000 Rupien.
Von einem »Fehlen wirklich substanzieller Fortschritte« im Kampf gegen Schuldknechtschaft ist selbstkritisch die Rede, zitierte die Zeitung »The Hindu« aus dem Papier. In den drei Jahren 2020 bis 2022 habe es gerade einmal 2080 Gerettete gegeben. Dabei wurde die Praxis schon 1976 gesetzlich für illegal erklärt. 84 Prozent der seither Befreiten entfallen übrigens auf fünf Bundesstaaten – Karnataka, Tamil Nadu, Odisha, Uttar Pradesh und Andhra Pradesh. Nicht selten werden Schuldenlast und Zwangsarbeit sogar noch an die nächste Generation vererbt. Schon Kinder müssen, statt die Schule zu besuchen, von klein auf mitarbeiten. Vielfältig ist der Einsatz solcher Sklaven der Moderne – von der Landwirtschaft über Textilfabriken bis zu Steinbrüchen und Ziegeleien reicht die Palette.
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