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Thomas Metscher: Ein freudetrunkener Dialektiker
Dem Literaturwissenschaftler und Philosophen Thomas Metscher zum 90.
Als ich vor einigen Jahren dem Thema »Popmusik und Politik« zu forschen begann, schlug ich Thomas Metscher und seiner Frau Priscilla vor, ein paar Tage bei ihnen mit einem Tonbandgerät Rast zu machen, den beiden einige Glanzpunkte des Genres vorzuspielen und zu protokollieren, was ihnen dazu einfiele. Von den des Marxismus eher unverdächtigen Beach Boys hatte ich »Surf’s Up« aus dem Jahr 1967 auserkoren, dessen Text, von Van Dyke Parks geschrieben, zu den schwierigsten und rätselhaftesten der Geschichte der Popmusik gehört. Als es nun eines Abends zu unserem Pop-Abend kam, war ich erstaunt, wie sicher und selbstverständlich sich die beiden von Anfang an durch die verschiedenen Textebenen bewegten, und binnen zwanzig Minuten waren Lied mitsamt Text treffsicher in eine ästhetische und politische Sinnebene einbezogen worden. Die Metschers fanden Vergnügen an dem Lied und hatten Spaß daran, die philosophisch-politische Ebene freizulegen.
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Größeren Eindruck machte auf die beiden noch »A Change Is Gonna Come« von Sam Cooke, »Hurry Sundown« von Little Richard und »Town Called Malice« (The Jam). Erneut durfte ich feststellen, dass die Trennungslinie zwischen E- und U-Kunst ein riesiger bürgerlicher Schwindel war und sich die Glanzmomente (also nicht der in Massen produzierte Durchschnitt) der populären Kunst durchaus in den Bereich der höheren aufnahmefähig waren. Seit Shakespeare, der heutzutage als Höhepunkt der ernsthaften Kunst gilt, seinerzeit jedoch ein Zeitphänomen vergleichbar den Beatles war, hat sich daran nicht viel geändert. Ein Gedanke, der sich in nicht wenigen von Thomas Metschers Büchern findet.
Metscher wurde am 30. Juli 1934 in Berlin als Kind eines (sozialistischen) Sozialdemokraten geboren, der 1945 die ersten Sowjetsoldaten mit einer Flasche Wein willkommen hieß. Erste prägende Einflüsse im Sinne des »new criticism« (also von it’s in the text selber, stupid) bekam er von dem Anglisten Rudolf Sühnel übermittelt. Auf die Pfade der Philosophie brachten ihn in Berlin und Heidelberg Margeritha von Brentano, Dieter Henrich und Karl Löwith; auf die Höhenwege des Marxismus musste er sich (mithilfe der Schriften von Georg Lukács) selbst bringen. Von 1961 bis 1971 lehrte er in Belfast, parallel dazu promovierte er über den irischen Dramatiker Sean O’Casey. Ab 1971 bekleidete er das Amt eines Professors für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität in Bremen. Seit seiner Emeritiereng macht der passionierte Bergsteiger Wälder und Höhen Niederbayerns unsicher.
In seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen widmet er sich politisch-philosophisch der Leitidee des »integrativen Marxismus«.
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In seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen widmet er sich politisch-philosophisch der Leitidee des »integrativen Marxismus« (wie bekannt verarbeitete, also kritisierte und integrierte Karl Marx in sein Werk beispielsweise die philosopischen Ideen von Aristoteles bis Hegel und ökonomischen Gedanken von Adam Smith bis David Ricardo, Marx war also integrativer Marxist). In »Logos und Wiklichkeit«, einem Werk, dem ich – sofern die Welt nicht geistig im Baerbockismus verendet – noch eine interessante Zukunft voraussage, sammelte er Teilerkenntnisse aus den verschiedenen philosophischen Disziplinen und bettete diese in einen grundlegenderen philosophischen Kontext so ein, dass daraus eine materialische Neu-Konfiguration des idealistischen Vernunftgedankens entsteht. Und just dieser Tage haut er uns eine sechshundertseitige Arbeit zu »Faust und die Dialektik« um die Ohren, die gleichfalls dieselben der gesamten Germanistenzunft zum Schlackern bringen könnte. Seine auf diese Art und Weise in dieser Deutlichkeit noch nie formulierte These: Die diametrale Gegenüberstellung des Faust in der Frühgeschichte der Rezeption als positiven und der gegenwärtigen Einordnung als negativen Protagonisten verfehlt die grundlegende, widersprüchliche Bedeutungsebene des Textes, wo eben auf Schritt und Tritt das Positive und Negative konstitutiv miteinander verwoben sind.
Ich wünsche den Gehirnzellen der Leser viel Spaß bei der Erkenntnis der bislang unentdeckten Sinnzusammenhänge. Und Dir, lieber Thomas, einen schönen Tag mit Deinen Lieben, heiteren Gesprächen, gutem Essen und Rotwein! Deine Gesellschaft bedeutet ein bis in das Höchste gesteigertes, freudetrunkenes Vergnügen. Mach nur weiter so und bleib uns noch lang erhalten!
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