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Teil keiner Jugendbewegung
Das größte Problem am Phänomen der Einsamkeit: Es ist eine Gefahr für den Status Quo des bundesrepublikanischen Ausbeutungsregimes.
Die liberale Demokratie ist die perfekte Form bürgerlicher Herrschaft: Dies schrieb eine marxistische Theorieorganisation einst über das Verhältnis von Kapitalismus und Staat. Anschauungsmaterial für die Bedeutung dieses Satzes liefert die Bertelsmann-Stiftung. Diese ist nach eigener Aussage damit beauftragt, »die Menschen zu befähigen, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten« und führt zu diesem Zweck unter anderem Studien zum Stand der Demokratie hierzulande durch. Die jüngst veröffentlichte fragt dazu: »Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024?«
Zunächst zu den Ergebnissen. Einsamkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen, das längst nicht mehr nur die mit diesem Lebensgefühl üblicherweise assoziierte Personengruppe der alten Menschen plagt, wie es die Studie seltsam pragmatisch konstatiert. Mittlerweile sind auch »knapp die Hälfte (46 Prozent) der 16- bis 30-Jährigen« betroffen. Dabei ist die Vereinzelung nicht auf alle jungen Erwachsenen gleich verteilt. Um genau zu sein: Besonders betroffen sind »Frauen; Menschen mit Migrationshintergrund; Menschen, die in mittelgroßen Städten leben; arbeitslose Menschen; Menschen mit niedrigem Schulabschluss; geschiedene oder verwitwete Menschen; Menschen zwischen 19 und 22 Jahren«. So weit, so wenig überraschend.
Über die Ursachen der Misere hat die Studie nicht viel zu sagen. Vor allem anderen wird auf die Spätfolgen der Pandemie verwiesen. Weiterhin haben die Wissenschaftler*innen Allgemeinplätze auf Lager: »Als mögliche Einflussfaktoren wurden u.a. veränderte Bedingungen des Erwachsenwerdens (Paulsen et al. 2014), die im Vergleich zu früher gestiegene Häufigkeit, mit der Arbeitsstellen und Beziehungen gewechselt bzw. beendet werden, veränderte Kommunikations- und Umgangsformen sowie ein allgemeiner Krisenmodus diskutiert.«
Während Patriarchat und Rassismus offenbar derart konstitutiv für diese Gesellschaft sind, dass eine Studienkonzeption ohne sie keinen Sinn machen würde, bleibt unbestimmt, worin dieser »allgemeine Krisenmodus« besteht. Vor allem die Tendenz des nationalen Nachwuchses, nicht mehr begeistert im demokratischen Normalbetrieb zu funktionieren, besorgt den Großkonzern: »Außerdem neigen einsame Menschen eher zu extremen politischen Einstellungen (...). Das heißt, ein hohes Ausmaß an Einsamkeit ist auch eine Gefahr für unsere Demokratie.«
Mit anderen Worten: Einsamkeit ist eine Gefahr für den Status Quo des bundesrepublikanischen Ausbeutungsregimes. Der Bertelsmann-Stiftung geht es weniger um die seelischen Nöte der Menschen, sondern um den Erhalt des Bestehenden – welches ja die deprimierenden Ergebnisse der Studie erst hervorgebracht hat. Entsprechend vage bleibt der im Fazit formulierte Lösungsvorschlag: »Junge Menschen sollten nicht nur Zielgruppe, sondern auch Akteure sein.« Ob sich damit nicht nur der emotionale Zustand der Betroffenen verändert, sondern auch die Faschisierung verhindern lässt, die unter jungen Leuten stattfindet, sei an dieser Stelle stark bezweifelt. Tanja Röckemann
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