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Hungern, erbrechen und Abführmittel
Immer mehr Menschen in Berlin müssen wegen Essstörungen stationär behandelt werden
Flacher Bauch, straffes Kinn und markante Wangenknochen – dazu leichte Bräune, im Wind wehende Haare und ein scharfer Blick. Das neue Model, das die »Sunset Dream-Kollektion« der Kleidungsmarke Mango präsentiert, entspricht dem westlichen Schönheitsideal für Frauen. Die Hübsche hat allerdings einen Haken: Das Model existiert ausschließlich in der virtuellen Welt, es ist ein KI-generiertes Produkt, wodurch das Modegeschäft Kosten für echte Frauen einspart.
Während Labels wie Calzedonia ihre Werbung progressiv mit Models verschiedener Körperformen schmücken, füttern KI-Models, die auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar sind, die Angst vieler Mädchen und jungen Frauen: dass sie im Vergleich nicht hübsch genug, insbesondere nicht dünn genug sind.
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Die Nachricht über das neue KI-Model könnte achselzuckend hingenommen werden, wenn die realen Auswirkungen nicht gravierend wären: So geht aus einer Antwort des Gesundheitssenats auf eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Christian Zander hervor, dass in Berlin die Zahl der wegen Essstörungen stationär behandelter Patient*innen zugenommen hat. Insbesondere Mädchen und junge Frauen sind stark betroffen. Von insgesamt 512 Behandelten im Jahr 2022 waren 479 Personen und damit 93 Prozent weiblich, 33 männlich. Die Zahl der Betroffenen nimmt zu: 2021 wurden 460 Personen behandelt, 2020 343. Das Berliner Beratungszentrum Dick & Dünn e. V. notiert ebenfalls eine Zunahme: Waren es 2020 779 Klient*innen und 1115 Beratungen, waren es 2023 schon 1104 Klient*innen mit 1203 Beratungen.
Staatssekretär Henry Marx (SPD) erklärt in seiner Senatsantwort, dass seit der Pandemie eine höhere Nachfrage nach Unterstützung in Beratungszentren zu beobachten sei. »Der höhere Bedarf geht jedoch nicht mit einer Ressourcenausweitung einher«, so Marx. So kam es 2023 zu Wartezeiten von bis zu sechs Wochen. »Die im Beratungszentrum vorhandenen personellen Ressourcen sind ausgeschöpft.« Über das einzige Berliner Beratungszentrum können Betroffene lediglich auf Angebote auf Selbsthilfebasis zurückgreifen.
Von den 512 Behandelten im Jahr 2022 hatten insgesamt 325 Patient*innen Anorexia nervosa, also Magersucht. Dies ist die bekannteste Form der Essstörung, allerdings tritt sie im Vergleich zu anderen Essstörungsformen seltener auf. Von 1000 Mädchen und Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens etwa 14 an Magersucht, 19 an Bulimie und 28 an einer Binge-Eating-Störung. Diese Erkenntnis legt nahe, dass viele unbehandelt bleiben, die unter Bulimie, also unkontrolliertes Essen und anschließende gewichtsreduzierende Maßnahmen, leiden. Dasselbe gilt für Betroffene der Binge-Eating-Störung, also krankhaftes übermäßiges Essen und wiederkehrende Essanfälle.
Aus der Senatsantwort geht hervor, dass die schulische Präventionsarbeit vor allem auf Gesundheitsförderung abzielt. »Dazu gehört gesunde Ernährung ebenso wie ein reflektierter Umgang«, erklärt Marx und zählt Sport und Stress auf. Dabei wären Schulung zu kritischer Nutzung von Medien, insbesondere sozialer Medien wie Instagram und Tiktok, sowie das Hinterfragen KI-generierter Models ebenfalls von Vorteil.
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