- Politik
- Russland
Russland: Politische Gefangene als Austauschmasse?
Nach dem Verschwinden mehrerer Gefängnisinsassen wird in Russland über die Hintergründe spekuliert
In Russland kam es in den vergangenen Tagen zu einer ungewöhnlichen Häufung von Verlegungen als politisch eingestufter Gefangener. Nachdem am Montag die ehemaligen Nawalnyj-Mitarbeiterinnen Lilija Tschanyschewa und Xenia Fadejewa sowie der Menschenrechtler Oleg Orlow und die Künstlerin Sascha Skolitschenko nicht mehr in ihren Straflagern anzutreffen waren, »verschwanden« am Dienstag mit dem Moskauer Lokalpolitiker Ilja Jaschin, dem russisch-deutschen Schüler Kevin Lick und dem vermeintlichen Agenten Daniil Krinari drei weitere Inhaftierte, davon berichteten die Angehörigen und Anwälte.
Dass Gefängnisinsassen in Russland für einige Zeit nicht auffindbar sind, ist nicht ungewöhnlich. Während der »Etappe«, der Verlegungen in eine andere Haftanstalt, haben die Betroffenen keinen Kontakt zur Außenwelt und wissen selbst nicht, wohin sie verlegt werden. Oft dauert diese Ungewissheit bis zu zwei Wochen.
Ungewöhnliche Häufung der Fälle
Ungewöhnlich ist hingegen die Häufung relativ prominenter Fälle in den vergangenen Tagen. Russische Menschenrechtler und Medien spekulieren seit Tagen, ob die Betroffenen möglicherweise gegen den »Tiergartenmörder« Wadim Krasikow, der in Berlin einsitzt, ausgetauscht werden sollen. Krasikow war in der Vergangenheit immer wieder genannt worden, wenn es darum ging, bekannte Insassen zu befreien. Unter anderem Alexej Nawalnyj und zuletzt der Journalist Evan Gershkovich galten als Kandidaten für einen Austausch.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Zusätzliche Nahrung bekam die Spekulation, nachdem Eva Merkatschjowa, Mitglied des Menschenrechtsrats des Präsidenten, am Dienstag einen »Gruppenaustausch« ins Gespräch brachte, ohne jedoch ins Detail zu gehen. »Alles ist möglich. In der Geschichte des modernen Russlands hat es so etwas noch nicht gegeben, in der sowjetischen hingegen schon«, schrieb Merkatschjowa auf Telegram. Die Regierung hält sich hingegen bedeckt. »Wir kommentieren dieses Thema nicht«, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. In der Vergangenheit hatte Russlands Regierung immer wieder ausländische Gefangene gegen in den USA inhaftierte Russen ausgetauscht. An wem der Kreml neben Krasikow noch Interesse haben könnte – auch darüber kann bisher nur spekuliert werden.
Über 1000 politische Gefangene
Am Mittwoch wurde bekannt, dass drei weitere politische Gefangene nicht mehr auffindbar sind, darunter mit dem ehemaligen US-Marine Paul Whelan auch ein US-Amerikaner. Whelan wurde 2020 wegen vermeintlicher Spionage zu 16 Jahren Haft verurteilt. Über seinen Austausch wurde bereits mehrfach spekuliert. Auch die Journalistin Maria Ponomarenko, die sich offen gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen hatte, war in ihrer Haftanstalt im Altai nicht mehr anzutreffen. Vermisst wird auch der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa. Zwei Tage wurde sein Anwalt nicht zu ihm gelassen, bis die Gefängnisbehörde FSIN erklärte, der Politiker befinde sich momentan auf der »Etappe«. Ziel: unbekannt.
Am späten Nachmittag berichteten Journalisten von einem Flugzeug der russischen Flugbereitschaft, dass von Omsk nach Moskau unterwegs war. Möglich, dass sich Kara-Mursa an Bord befand. Kurz darauf machte der Anwalt Igor Slabych darauf aufmerksam, dass die Namen von vier Russen aus den Unterlagen der US-amerikanischen Gefängnisbehörden verschwunden sind. Auch Slowenien könnte zwei der Spionage verdächtige Russen austauschen.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist die Zahl politischer Gefangener in Russland massiv angestiegen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial spricht von 700 politischen Gefangenen. Das Projekt Archipel FSIN listet sogar 1105 Menschen auf, die landesweit aus politischen Gründen hinter Gittern sitzen. Laut der Menschenrechtsorganisation OVD laufen vor Gerichten aktuell 2973 politisch motivierte Verfahren, in 157 fällt kommende Woche das Urteil. Meist geht es dabei um die offene Ablehnung des Ukraine-Krieges.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.