»Hört auf, den Tod unserer Kinder zu instrumentalisieren«

Bei einem Raketeneinschlag auf den Golanhöhen verlor Aram Abu Saleh vier Familienmitglieder. Wie Israels Regierung damit umgeht, macht sie fassungslos

Jugendliche aus Madschdal Schams trauern um Alma Ayman Fakher Eldin (11), Milad Muadad Alsha’ar (10), Vinees Adham Alsafadi (11), Iseel Nasha’at Ayoub (12), Yazan Nayeif Abu Saleh (12), Johnny Wadeea Ibrahim (13), Ameer Rabeea Abu Saleh (16), Naji Taher Alhalabi (11), Fajer Laith Abu Saleh (16), Hazem Akram Abu Saleh (15) und Nathem Fakher Saeb (16).
Jugendliche aus Madschdal Schams trauern um Alma Ayman Fakher Eldin (11), Milad Muadad Alsha’ar (10), Vinees Adham Alsafadi (11), Iseel Nasha’at Ayoub (12), Yazan Nayeif Abu Saleh (12), Johnny Wadeea Ibrahim (13), Ameer Rabeea Abu Saleh (16), Naji Taher Alhalabi (11), Fajer Laith Abu Saleh (16), Hazem Akram Abu Saleh (15) und Nathem Fakher Saeb (16).

Zwölf Kinder aus Ihrem Dorf Madschdal Schams auf den Golanhöhen wurden durch einen Raketeneinschlag auf einem Spielplatz getötet – vier von ihnen waren Ihre Cousins und Cousinen. Wie haben Sie die vergangenen Tage erlebt?

Ich war gerade bei einer pro-palästinensischen Demonstration hier in Berlin, als ich von der Attacke erfuhr. Ich schaute auf mein Handy und sah, wie viele verpasste Anrufe ich hatte. Am Telefon sagte meine Familie, dass 30 oder 40 Menschen getötet oder verletzt wurden – ihre Namen kannten wir noch nicht. Ich dachte, meine kleine Schwester könnte unter den Opfern sein. Sie ist Teil des Fußballteams und trainierte fast jeden Tag auf dem Spielplatz. Die Mädchen, die getötet wurden, sind ihre Freundinnen. Kurz nach dem Angriff lief mein 17-jähriger Bruder zum Sportplatz, um unsere Schwester zu suchen, und fand dort Überreste seiner Freunde auf dem Boden. Seit Monaten wache ich mit der Angst auf, dass eine Rakete das Dorf trifft, jetzt ist es passiert. Ich stehe noch immer unter Schock.

Was haben die Bewohner der Golanhöhen eigentlich mit dem Krieg in Gaza und der Auseinandersetzung zwischen Israel und Hisbollah zu tun?

Direkt haben wir nichts damit zu tun. Die Golanhöhen sind aber immer von Krieg umgeben, weil unsere Dörfer an einem militärstrategisch wichtigen Ort gelegen sind: in den Bergen zwischen Libanon, Syrien, Israel und Palästina. Deshalb hat Israel unser Territorium 1967 illegal besetzt und 1981 annektiert, die Golanhöhen gehören eigentlich zu Syrien. Wir syrischen Drusen sind eine Minderheit der Minderheit. Deshalb versuchen wir lieber, uns aus den Konflikten rauszuhalten – als Schutzmechanismus. Aber wir haben natürlich trotzdem unsere eigenen politischen Ansichten.

Was glauben die Menschen in Madschdal Schams, wer für die Attacke verantwortlich ist? Israel behauptet, die Rakete kam von Hisbollah – Hisbollah sagt, es war eine israelische Abwehrrakete ...

Die Menschen sind sehr verwirrt. Auf der einen Seite denken die Leute: Eigentlich gibt es keinen Grund, warum Hisbollah Madschdal Schams angreifen sollte, wir haben keine Probleme mit Hisbollah. Israel sagt natürlich, es wäre Hisbollah gewesen. Wer am Ende am meisten davon profitiert, ist die israelische Regierung, weil sie die Sache nutzen, um Stimmung für eine Eskalation mit Hisbollah zu machen. Deshalb glauben viele in Madschdal Schams, Israel könnte verantwortlich sein. Wir können es nicht sicher wissen. Hoffentlich wird irgendwann ein guter Journalist oder eine gute Journalistin den Fall richtig aufklären.

Interview

Aram Abu Saleh ist in Madschdal Schams aufgewachsen. Bei einem Raketeneinschlag in dem drusichen Dorf verlor sie vier Cousins und Cousinen. Abu Saleh lebt und studiert seit drei Jahren in Berlin.

In den deutschen Medien wurden einige Menschen aus Madschdal Schams zitiert, die Hisbollah dafür verantwortlich machen oder »Vergeltung« fordern.

Ja, die gibt es. Aber es ist wichtig zu wissen, dass die Menschen sich viel eher trauen, öffentlich die israelische Erzählung zu übernehmen, als sie infrage zu stellen. Diejenigen, die daran zweifeln, haben oft Angst. Seit der Attacke ist das israelische Militär hier überall präsent; der israelische Geheimdienst ist auf unsere Anführer zugekommen und hat Druck auf sie gemacht, das israelische Narrativ zu übernehmen. Vor Ort können die Menschen darüber nicht reden, weil sie festgenommen werden könnten. Ich bin aber hier, ich kann reden, deshalb gebe ich dieses Interview.

Ein öffentlich-rechtlicher Sender in Deutschland, das ZDF, nannte die getöteten Kinder »israelische Zivilisten«, obwohl sie keine israelische Staatsbürgerschaft hatten. Darüber gab es viele Diskussionen. Wie blicken Sie, wie blickt Ihre Community darauf?

Eins ist eine Million Prozent sicher: Die Familien der Opfer wollen nicht, dass ihre Kinder als israelische Zivilisten bezeichnet werden. Mit dieser Erzählung wird das Blut unserer Kinder dazu benutzt, Israel zu unterstützen. Diese Kinder sind unter der israelischen Besatzung geboren und gestorben. Und jetzt nehmen sie ihnen auch noch ihre syrische Identität. Ich wurde sehr wütend, als ich den Post des ZDF gesehen habe. Das ist wirklich schmerzhaft.

Andere sagen jetzt: Warum spielt das überhaupt eine Rolle, ob sie israelisch oder syrisch sind – das Schlimme ist, dass Kinder gestorben sind.

Die israelische Seite instrumentalisiert ihren Tod offensichtlich für ihre politische Agenda. Alle paar Stunden in den vergangenen Tagen kam irgendein israelischer Politiker und drängte die Familien der Opfer dazu, gemeinsam mit ihnen zu trauern und Fotos zu machen mit Israel-Flaggen. Das wollten sie für eine weitere Eskalation mit Hisbollah im Libanon nutzen. Wie wir gesehen haben, ist genau das passiert. Die Eltern der Kinder haben ganz klar gesagt: Uns repräsentiert das nicht, wir wollen nicht, dass noch mehr Kinder im Namen unserer Kinder getötet werden. Das zeigt auch ihre Ablehnung der israelischen Politiker. Benjamin Netanjahu und andere wurden aus dem Dorf gejagt.

Gibt es denn nicht auch viele Drusen, die Israel unterstützen?

Ja, zum Beispiel einer der Anführer der israelischen Drusen, Muafak Tarif, der in den vergangenen Tagen viel in den Medien zitiert wurde. Es ist wichtig zu verstehen, dass es zwischen den Drusen auf den Golanhöhen und denen in Israel große Unterschiede gibt. Sie leben in Israel, leisten Militärdienst in der israelischen Armee, sind israelische Staatsbürger und sehen sich überwiegend als Teil der israelischen Gesellschaft. Wir in den Golanhöhen verweigern die israelische Staatsbürgerschaft und den Militärdienst, wir sind staatenlos. Wenn ich »wir« sage, meine ich den allergrößten Teil der Golan Dörfer. Die offizielle Sichtweise unserer Vertreter ist, dass wir die Besatzung und den israelischen Staat ablehnen. Es gibt ein paar Menschen, die die israelische Staatbürgerschaft haben, aber das ist keine politisch-relevante Kraft, es sind einzelne, die zum Beispiel mit israelischen Drusen verheiratet sind. Ihre Kinder bekommen die Staatsangehörigkeit qua Geburt.

Seit dem Krieg in Syrien hat sich die Lage aber etwas geändert, oder?

In den vergangenen Jahren haben mehr Menschen, vor allem junge Leute, die israelische Staatsbürgerschaft angenommen. Weil es ihnen ermöglicht, rauszukommen, zum Studieren zum Beispiel. Vor dem Krieg in Syrien wurde alle sechs Monate der Grenzübergang nach Syrien geöffnet, damit Menschen zum Studium nach Damaskus gehen konnten. In der Generation unserer Eltern haben eigentlich alle dort studiert, der Großteil unserer Ingenieure und Ärzte wurde dort kostenlos ausgebildet. Heute ist das nicht mehr möglich, weil die Grenze permanent geschlossen ist. Wir haben keinen anderen Weg raus als über Israel. Aus politischer Sicht finde ich das schwierig, aber gleichzeitig auch verständlich, wenn junge Leute diesen Weg gehen wollen. Aber das sind einige wenige.

Wie wirkt sich die Annektierung ansonsten auf das Leben in den Golanhöhen aus?

Die Annektierung ist in fast allen Bereichen unseres Lebens präsent. Alle öffentlichen Dienste sind von Israel kontrolliert. Jobs, Studienplätze und Krankenhausplätze, all das finden wir nur in israelischen Institutionen. Es gibt keinen Weg daran vorbei. Insbesondere für junge Menschen ist es sehr schwierig, überhaupt einen Job zu finden, weil unsere Dörfer weit abgelegen sind. Vor dem Krieg in Syrien war die Situation noch besser. Wir in den Golanhöhen betreiben traditionell vor allem Landwirtschaft. Früher konnten wir unsere Erträge, vor allem Äpfel und Kirschen, nach Syrien verkaufen. Das ist inzwischen verboten, also müssen wir mit den Siedlungen konkurrieren, die wirtschaftlich dominieren. So haben wir viele landwirtschaftlichen Einkünfte verloren.

Würden Sie sagen, man arrangiert sich mehr oder weniger mit der Annektierung?

In den 70er und 80er Jahren gab es noch bewaffnete Widerstandsgruppen, die Anschläge auf israelische Militärziele in den Golanhöhen verübt haben, etwa wurden israelische Behörden angezündet oder Soldaten gekidnappt. Inzwischen ist es nicht wirklich realistisch, damit wirklich etwas gegen die israelische Besatzung zu bewirken. Vor dem Krieg in Syrien hatten Menschen mehr Hoffnung, dass wir irgendwann von Syrien befreit werden, aber das Assad-Regime tut überhaupt nichts gegen die Besatzung. Viele haben deshalb das Gefühl, unser eigener Staat hat uns zurückgelassen, wir sind auf uns allein gestellt. Wenn du als religiöse Minderheit von so viel Krieg umgeben bist, ist das Allerwichtigste, dich selbst zu schützen, es geht uns vor allem ums Überleben.

Durch den Krieg in Gaza und die Auseinandersetzungen zwischen Israel und Hisbollah sind die Menschen auf den Golanhöhen erneut gefährdet. Wie blickt man dort auf den Konflikt?

Wenn du eine religiöse Minderheit im Nahen Osten bist, fühlst du dich zwar grundsätzlich nicht wohl mit einer islamistischen Partei wie der Hamas. Aber natürlich sympathisieren die Allermeisten in den Golanhöhen mit den Palästinensern und den Menschen in Gaza. Ein Satz, den ich gerade immer wieder aus meinem Dorf höre, ist: Wir haben zwölf Kinder verloren und mussten ihre Überreste auf dem Spielplatz aufsammeln, das ganze Dorf ist unter Schock. Wie muss das für die Familien in Gaza sein, wo jeden Tag Kinder von israelischen Bomben getötet werden?

Worauf hoffen die Menschen in Madschdal Schams ?

Die Familien wollen einfach allein gelassen werden, um in Frieden zu trauern. Die Beerdigungen waren noch nicht vorbei und die israelischen Politiker kamen, um uns ihre Erzählung aufzustülpen. Wir wollen nicht, dass diese Sache zu noch mehr Krieg führt. Wir sind mit den Drusen im Libanon verbunden, wir leben am selben Berg, wir gehören zur selben Familie. Wir wollen uns nicht selbst bekämpfen. Dieser Krieg muss endlich enden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.