Berlin-Schöneweide: Überall Zwangsarbeit

Das historische Industriegebiet in Schöneweide an der Spree ist auch ein Ort des Erinnerns an die NS-Verbrechen

Die Gebäude der ehemaligen AEG-Fabrik in Schöneweide: Hier, wie an allen Industriestandorten, kamen im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Zwangsarbeiter*innen zum Einsatz.
Die Gebäude der ehemaligen AEG-Fabrik in Schöneweide: Hier, wie an allen Industriestandorten, kamen im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Zwangsarbeiter*innen zum Einsatz.

Hohe Schornsteine und große Fabrikgebäude aus gelbem Backstein ragen in den Himmel. Direkt an der Spree im Berliner Ortsteil Oberschöneweide begann Emil Rathenau Ende des 19. Jahrhunderts ein großes Werksgelände der AEG zu errichten, darunter das Kabelwerk Oberschöneweide (KWO) und das Tranformatorenwerk (TRO). Es folgten ihm weitere Unternehmen in den Berliner Südosten und es entstand ein großräumiges Industriegebiet.

Industrie und Zwangsarbeit

»Die ganze Industrie hatte Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg, bei der AEG müssen es Tausende gewesen sein«, sagt Eva Kuby vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit zu »nd«. Sie steht auf dem Kaisersteg, einer Fußgängerbrücke über die Spree zwischen Ober- und Niederschöneweide, und zeigt auf die Fabrikgebäude. Die Zwangsarbeiter*innen hätten entweder direkt auf dem Fabrikgelände gewohnt oder seien in Lagern auf der anderen Seite der Spree, also auch in Niederschöneweide, untergebracht worden.

»Zwangsarbeit gab es überall. In Berlin gab es 3000 Zwangsarbeitslager, meistens in der Nähe von Fabriken«, sagt Kuby. Sie zeigt eine Karte, auf der zu sehen ist, dass sich auf ganz Berlin verteilt Lager befanden, sowohl im Zentrum als auch in den Industriegebieten in Spandau, Reinickendorf, Lichtenberg und im Südosten Berlins an der Spree.

Die Batteriefabrik Pertrix

Etwa 600 Meter weiter östlich am Niederschöneweider Spreeufer entlang befand sich einst das Wirtshaus Loreley. 500 Zwangsarbeiter*innen seien hier 1944 untergebracht worden, so Kuby, die Frauen kamen aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen. Sie haben in der Batteriefabrik Pertrix, einer Tochterfirma der Akkumulatorenfabrik-Aktiengesellschaft (AfA), Teil des Quandt-Konzerns, arbeiten müssen. Diese befand sich weitere 1,5 Kilometer östlich an der Spree und war relevant für die Rüstungsindustrie. Deshalb wurden hier ab 1939 zahlreiche Zwangsarbeiter*innen, vorwiegend Frauen, eingesetzt, insgesamt waren es mindestens 2000. Noch immer ist ein großer Schornstein der alten Fabrikgebäude aus der Ferne zu sehen.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

»Die Zwangsarbeiterinnen mussten in Holzschuhen eine halbe Stunde zur Fabrik laufen«, sagt Kuby. Die Holzschuhe seien wegen der Batteriesäure notwendig gewesen. Neben KZ-Insass*innen und Jüd*innen wurden Kriegsgefangene und aus den besetzten Gebieten verschleppte Zivilist*innen aus Ost- und Westeuropa in der Fabrik zur Arbeit gezwungen.

Das Lager GBI 75/76

Ende Februar 1945 wurde das Wirtshaus Loreley bei einem Bombenangriff getroffen, sagt Eva Kuby. Deshalb kamen 200 Frauen in das Lager, in dem sich heute das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit befindet. Knapp 200 Meter vom Spreeufer entfernt an der Köllnischen Straße befinden sich noch heute elf der zwölf 1943 erbauten Steinbaracken, ursprünglich geplant waren 13. »Die meisten Lagerbaracken im NS wurden aus Holz erbaut. Hier ist es Stein, weil ab 1943 die Gefahr von Luftangriffen so hoch war, dass es die Anweisung gab, Gebäude nur noch aus Stein zu bauen«, so Kuby. Der Name GBI 75/76 für das Lager kommt vom »Generalbauinspektor«, denn die Behörde hatte die Errichtung dieses und anderer Lager zu verantworten.

»Wir wissen, dass hier Italiener untergebracht waren, weil sie sich im Keller verewigt haben.«

Eva Kuby
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

Kuby öffnet die Tür zu Baracke 13. Hier haben italienische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter*innen in Stockbetten mit bis zu 16 Personen pro Raum gewohnt. Die Gebäudestruktur der Baracke sei seitdem kaum verändert worden, sagt Kuby, nur einige Wände fehlten. »Wir wissen, dass hier Italiener untergebracht waren, weil sie sich im Keller verewigt haben.« Im Keller waren Luftschutzräume, in denen die italienischen Zwangsarbeiter Inschriften hinterlassen haben. Viele davon halten das Datum fest, an denen es Luftangriffe gab, während derer die Arbeiter im Keller ausharren mussten, wie etwa »15-4-45«.

Im NS gab es eine starke rassistische Ungleichbehandlung zwischen den Zwangsarbeiter*innen verschiedener Nationalitäten. Westeuropäer*innen lebten unter besseren Bedingungen als Osteuropäer*innen und Pol*innen. Letztere hatten einen Aufnäher mit »OST« beziehungsweise »P« auf ihrer Kleidung zu tragen und durften zum Beispiel nicht in die Luftschutzräume, sondern mussten in »Splittergräben« Schutz suchen. Auch die Bezahlung der Arbeit schwankte entsprechend dieser Unterscheidungen stark.

In ganz Deutschland gab es im Zweiten Weltkrieg 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen, sagt Eva Kuby, und noch einmal so viele in den besetzten Gebieten. Unter den Zwangsarbeiter*innen in Deutschland seien 8,4 Millionen Zivilist*innen, 4,6 Kriegsgefangene und 1,1 Millionen KZ-Insass*innen, Jüd*innen und Sinti und Roma gewesen.

Fehlende Akten

»Das Lager war ausgelegt zur Unterbringung von 2160 Menschen, wir wissen aber nur von 900 Menschen, dass sie hier tatsächlich gewohnt haben«, sagt Eva Kuby. Darunter seien 435 italienische Kriegsgefangene (»italienische Militärinternierte«, IMI) gewesen. Die Aktenlage zu Zwangsarbeit sei allgemein sehr schlecht, sagt die Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums. Wenige Geschichten von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen seien zu finden, auch weil die Anerkennung von Zwangsarbeit als NS-Verbrechen lange ausblieb. Nach Kriegsende hätten sich die meisten Arbeiter*innen still in ihre Heimatländer zurückbegeben, sofern ihnen das möglich war. Viele seien als Verräter*innen betrachtet worden, vor allem in der Sowjetunion.

»Es hat kaum jemand darüber geredet«, sagt Kuby. Das Dokumentationszentrum in Schöneweide hat es schließlich geschafft, den Italiener Ugo Brilli zu kontaktieren, der in dem Lager untergebracht war. Er wurde zwar 1944 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, musste aber als ziviler Zwangsarbeiter weiter in Berlin bleiben, erst in einem Lager in Weißensee, dann in Schöneweide. Brilli konnte in Weißensee den deutschen Küchenchef mit Zigaretten bestechen, um in der Küche zu arbeiten und so besser an Nahrung zu kommen. Auch im Lager GBI 75/76 arbeitete er als Küchenhelfer. Brilli kehrte nach dem Krieg zurück nach Italien.

In den noch erhaltenen Lagergebäuden in Schöneweide befinden sich inzwischen neben dem Dokumentationszentrum samt einer Dauerausstellung und wechselnden Sonderausstellungen zum Thema Zwangsarbeit in Deutschland unter anderem eine Kegelbahn, eine Kita und eine Sauna, die Gebäude sind teilweise in öffentlicher Hand, teilweise in Privatbesitz. Das 2006 eröffnete Dokumentationszentrum restauriert aktuell noch verbliebene Baracken. Teilweise fänden hier mehrmals täglich Führungen statt, sagt Eva Kuby.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.