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Schmerwitz: Das schönste Asylheim im ganzen Land
Geflüchtete Journalisten leben und arbeiten in Schmerwitz und sind bei den Dorfbewohnern willkommen
Die Fotografin Sareh Ovegsi macht sehr schöne, künstlerisch anspruchsvolle Bilder von jungen Frauen, die kein Kopftuch tragen und auch mal nackte Schultern zeigen. In Deutschland ist das kein Problem. Hier kann sie frei arbeiten. Hier lässt sie selbst das Kopftuch weg und trägt ein schulterfreies Kleid.
In ihrem Heimatland Iran hat Ovegsi 2017 Schwierigkeiten bekommen – genauer gesagt einen Anruf der Behörden mit der Ansage, sie müsse unverzüglich damit aufhören, solche Fotos zu schießen. Die heute 36-Jährige hat den Iran daraufhin verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlte. Nach Stationen in Georgien und in der Türkei ist Ovegsi inzwischen in Deutschland angekommen und in Schmerwitz im Landkreis Potsdam-Mittelmark gelandet. Es ist ein echtes Kuhdorf mit wenigen Einwohnern, vielen Nutztieren – und ohne Empfang für Mobiltelefone und auch ohne Internetanschluss.
Ohne Internet kann eine moderne Medienschaffende wie Sareh Ovegsi selbstverständlich nicht arbeiten. Aber mit ihr selbst und sieben Kollegen, zum Beispiel einer Fernsehjournalistin aus dem Sudan, ist Anfang Juli eine Lösung für alle Dorfbewohner in das stillgelegte Seniorenheim im Haus Schmerwitz 42 eingezogen. Das Gebäude beherbergte zu DDR-Zeiten eine Ausbildungsstätte der Betriebskampfgruppen. Jetzt gibt es endlich superschnelles Internet im Dorf, ohne dass Glasfaserkabel verlegt worden wären. Die Daten werden via Satellit mit der Starlink-Technologie von SpaceX übertragen. SpaceX ist ein Raumfahrtunternehmen, das 2002 vom späteren Tesla-Boss Elon Musk gegründet wurde.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.
Alle Dorfbewohner werden im Erdgeschoss des Hauses freundlich begrüßt und bekommen bei Bedarf das Passwort gesagt, damit sie sich ins Internet einwählen können. Gewissermaßen ist das ein Dankeschön dafür, dass die Leute sich ihrerseits in einer Abstimmung dafür ausgesprochen haben, bis zu 30 geflüchtete Journalisten aus aller Welt aufzunehmen. 40 ukrainische Kriegsflüchtlinge sind auch schon da und leben in einem alten Hotel. Der Landkreis hatte 2022 unter dem Eindruck des russischen Angriffs auch noch das leerstehende Seniorenheim angemietet, um dort 110 weitere Ukrainer unterbringen zu können.
Es habe viele Argumente gegen die vorgesehene Unterbringung gegeben, erinnert Sozialdezernent Bernd Schade. Die schlechte Verkehrsanbindung: Es fährt zwar ein Bus, aber selten. Das zahlenmäßige Verhältnis von Ortsansässigen und Geflüchteten: Jeder Zweite im Dorf wäre dann ein Ukrainer gewesen. Das wäre zu viel gewesen für den winzigen, abgelegenen Ort, der zur Gemeinde Wiesenburg gehört. Man müsse und wolle Flüchtlinge aufnehmen, versichert Schade. Aber es seien kaum noch geeignete Objekte dafür vorhanden. Das sei deutschlandweit ein Dilemma. »Das ist niemandes Schuld. Es liegt an der Weltlage.« Der Kreistag entschied dann alsbald, das Objekt in Schmerwitz nur im höchsten Notfall zu belegen, wenn sonst nur noch Turnhallen zur Verfügung gestanden hätten. Aber so weit ist es nicht gekommen.
Nur was jetzt tun mit dem gemieteten Haus? Da kam die Idee einer Gemeinschaftsunterkunft für bis zu 30 Medienschaffende wie gerufen. »Das ist absolut neu und innovativ«, meint Schade. Er hält es für denkbar, so etwas auch für andere Berufsgruppen zu machen. So werde das Prinzip durchbrochen, alle Flüchtlinge zusammengewürfelt unterzubringen. In Schmerwitz seien »hervorragende Bedingungen« für die geflüchteten Journalisten geschaffen worden.
Tatsächlich gibt es Büros, Besprechungsräume, ein Aufnahmestudio und ein Atelier, eine Küche natürlich und auch einen Plexiglaskasten mit zwei Sitzbänken, in den sich die Journalisten für Interviews oder ungestörtes Schreiben von Texten zurückziehen können. Die Gemeinde Wiesenburg hat für diesen Glaskasten noch extra Geld locker gemacht. Drin sieht man alles, was draußen vorgeht, hört aber keinen Mucks. Vor und hinter dem Haus können sich Bewohner und Gäste auf die Wiese setzen oder legen – in den Schatten der Bäume oder in die Sonne.
»Alle Einwohner sind jederzeit eingeladen, das herrliche Internet zu nutzen, und wir haben auch eine super Kaffeemaschine.«
Klaas Glenewinkel MiCT-Direktor
In den oberen Etagen wohnen die Journalisten. Da bisher nur Alleinstehende da sind, in Einzelzimmern mit Bad. Es sind aber auch Wohnungen vorhanden für Kollegen, die mit Frau und Kindern oder anderen Angehörigen kommen. Es wird kein Luxus geboten, aber verglichen mit anderen Asylheimen sind die Verhältnisse hier sehr viel besser.
Bürgermeister Marco Beckendorf (Linke) kann sich gut vorstellen, dass es das schönste Asylheim Deutschlands ist und dass sich das herumspricht und geflüchtete Journalisten darum bitten werden, hier mit einziehen zu dürfen. Für Beckendorf ist das Projekt eine große Chance. Der Staat habe in der Bevölkerung Vertrauen eingebüßt, die Integration schnell und gut zu schaffen. Flüchtlinge kamen in ländliche Regionen wie den Hohen Fläming nicht etwa deshalb, weil sie es wollten, sondern weil es dort noch freien Wohnraum gab, berichtet Beckendorf. Aber ohne Auto und Führerschein waren sie aufgeschmissen und wollten schnell wieder weg – dorthin, wo es für sie Arbeit gibt.
»Das ist das große Manko im ländlichen Raum: Wir haben Arbeitsplätze verloren und damit auch Einwohner«, erklärt der Bürgermeister. Die geflüchteten Medienschaffenden bringen ihre Arbeitsplätze mit. Sie schreiben beispielsweise als Blogger weiter für ihre Leser in der alten Heimat oder produzieren Videos in ihrer Muttersprache, so wie der kurdische Umweltjournalist Tayeb Ahmadi, der im Nahen Osten unter seinem Pseudonym Hawar bekannt ist. »Mein Deutsch ist nicht gut«, bedauert er. »Aber ich lerne Deutsch, so schnell es geht.«
Untereinander sprechen die acht Männer und Frauen zumeist Englisch und auch mit den Dorfbewohnern. Ahmadi dankt für die Unterstützung und versichert: »Wir wollen etwas Nützliches tun – auch für Deutschland.«
Julianne Becker kann das alles gut nachfühlen, besonders die anfänglichen Schwierigkeiten mit der Sprachbarriere. Becker ist US-Amerikanerin und spricht passabel Deutsch, jedoch mit starkem englischen Akzent und grammatisch nicht einwandfrei. Sie lebt im Ort und kann berichten: »Wir haben jetzt richtig schnelles Internet in Schmerwitz. Das ist total cool.« Becker gehört zu den Gründern des Coconut in Bad Belzig – einem sogenannten Coworking Space, einem Platz also, den verschiedene Kreative gemeinsam nutzen. Das Coconut ist ein Kooperationspartner des Landkreises bei dem Journalistenprojekt. Finanziert wird das zunächst auf zwei Jahre angelegte Vorhaben aus Lottomitteln sowie mit Geldern von den brandenburgischen Ministerien für Wirtschaft, Kultur und Soziales.
Hauptverantwortlich aber ist die Organisation MiCT. Die Abkürzung steht für media in cooperation and transition, also für Medien in Kooperation und im Übergang. Um bedrohte Journalisten kümmerte sich diese Hilfsorganisation ursprünglich nur in deren Heimatländern. Doch dann zeigte sich ein Bedarf, auch geflüchtete Kollegen zu unterstützen, wie Direktor Klaas Glenewinkel erläutert. Warum Schmerwitz? »Es sind die leckersten Eier, die die Schmerwitzer Hühner legen und die wir gern kochen und braten«, erzählt Glenewinkel augenzwinkernd, wie MiCT auf den Ort aufmerksam geworden sei. Die Bioeier vom Gut Schmerwitz gibt es in Berliner Geschäften zu kaufen.
Drei Diskussionen habe es mit den Einwohnern gegeben, bevor sich MiCT zum Herkommen entschied. »Wenn wir nicht gewollt gewesen wären, wären wir nicht gekommen«, sagt Glenewinkel. Darum die Abstimmung, die schon einmal ein halber Vertrauensbeweis gewesen sei. Das volle Vertrauen kann dann nach einem halben Jahr Projektlaufzeit ausgesprochen werden. Dann soll es noch eine weitere Abstimmung geben. Wenn die Schmerwitzer ihre Meinung bis dahin ändern sollten, würde MiCT dem Dorf wieder den Rücken kehren.
Aber danach sieht es im Moment überhaupt nicht aus. Die Nachbarn schauen interessiert vorbei, unterhalten sich mit den Journalisten und freuen sich bereits auf die angekündigten Veranstaltungen. Es wäre anscheinend gar nicht mehr notwendig, dass Glenewinkel noch die Werbetrommel rührt, indem er sagt: »Alle Einwohner sind jederzeit eingeladen, das herrliche Internet zu nutzen, und wir haben auch eine super Kaffeemaschine.«
Apropos: Es gibt für den besonderen Ort für Journalisten im Exil, das Exile Media Hub, Kaffeetassen mit dem sehr interessanten Projektlogo. Zu sehen sind schwarze Balken. Die stehen für die von den Zensoren geschwärzten Stellen. Damit haben die Medienschaffenden bittere Erfahrungen gemacht. Doch hier dürfen sie frei schreiben.
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