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»Mouhamed hat uns so viel Liebe geschenkt«
Vor zwei Jahren starb der aus dem Senegal Geflüchtete Mouhamed Dramé durch Polizeikugeln
Eine ruhige Nebenstraße in der Dortmunder Nordstadt, ein Metallzaun, dahinter der Garten einer katholischen Jugendeinrichtung. Es ist Freitagmittag, vier Tage nachdem hier am 8. August der Hall von sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole durch die Straße peitschte. Zaghaft nähert sich eine ältere Frau mit Sonnenblumen in der Hand, legt sie unterhalb des Zaunes auf den Gehweg nieder und verharrt dann vor der provisorischen Andachtsstelle. Britta, die in Wahrheit anders heißt, ist gekommen, weil auch sie nicht fassen kann, was sie über den Tod des jungen Geflüchteten Mouhamed im Radio hörte. Wie alle hier kannte sie ihn nicht persönlich - »noch nicht« wie sie mit leiser Stimme hinterherschiebt.
Mouhamed, so wird in diesen Tagen klar, (über)lebte nur wenige Tage in Dortmund. Erst im April 2022 wurde er als jugendlicher Geflüchteter in Rheinland-Pfalz registriert. Das ihn dort betreuende Jugendamt vermittelte ihn schließlich am 1. August in jene Einrichtung, in deren Garten er eine Woche später erschossen wird. »Unbedingt wollte er in diese Stadt, redete ständig vom Fußballclub Borussia Dortmund.« Das erzählt Britta den Umstehenden, die erstmals etwas Persönliches über den Getöteten hören. Bewusst hat sie die schwarz-gelben Sonnenblumen mitgebracht, die Vereinsfarben der Borussia, viel lieber wäre sie deshalb eines Tages mit ihm ins Stadion gegangen. Britta hielt sich als ehrenamtliche Helferin bereit, hatte Kontakt zu jenen Menschen aus Rheinland-Pfalz, die Mouhamed dabei unterstützten, in seiner Traumstadt Dortmund Fuß zu fassen, ein neues Leben aufzubauen. Doch anstatt ihn kennenzulernen, steht sie nun am Ort seines Todes.
Britta hat noch ein Foto Mouhameds auf ihrem Handy dabei – es ist das Foto, das überall mit seinem Fall bekannt wurde. Manche der Anwesenden fotografieren es ab, bereits tags drauf bastelt und veröffentlicht jemand jene Grafik, die heute für so vieles steht: Für diesen »Einzelfall« tödlicher, rassistischer Polizeigewalt, der symbolisch für unzählige weitere steht, aber auch für einen Einzelfall in punkto Anteilnahme, medialer Aufmerksamkeit und öffentlichem Druck. Nur deshalb, so sind sich heute viele in Dortmund sicher, gab es überhaupt ein ordentliches Ermittlungsverfahren und den derzeit laufenden, vielbeachteten Prozess am Dortmunder Landgericht gegen fünf am Einsatz beteiligte Polizist*innen.
Zur selben Zeit, an jenem Freitag vier Tage nach den Schüssen, tausende Kilometer entfernt: Ndiaffate, mitten im Senegal, das Heimatdorf Mouhameds. Etwa zwanzig Fahrminuten sind es hierher aus Kaolack, der zweitgrößten Stadt des Landes, südlich der Hauptstadt Dakar. Wie auch Mouhamed sind die meisten Bewohnenden Ndiaffates Muslim*innen. Jeden Freitag wird die kleine Moschee zum Zentrum des Dorfes: Diouli Aldjouma, so wird das Freitagsgebet auf Mouhameds Muttersprache Wolof bezeichnet.
Zwei Jungs nähern sich den Erwachsenen, die aus der Moschee kommen; man merkt, sie wollen einen bestimmten Mann ansprechen. Erst jedoch trauen sie sich nicht, drucksen herum, etwas scheint nicht in Ordnung zu sein. Lamine Dramé, ein stattlicher Mann, den hier alle genauso kennen wie seinen Sohn Mouhamed, bemerkt dies und ermuntert sie auszuspucken, was los sei: »Selbst wenn irgendetwas Schlimmes ist, ihr könnt das ruhig sagen. Ich bin dafür bereit.«
16 Monate später, Mitte Januar 2024, erzählt Sidy Dramé in Deutschland von diesem Moment, der die Nachricht über das jähe und brutale Ende des Lebens seines kleines Bruders nach Ndiaffate trug. Jenem von acht Geschwistern der Familie, der als Zweitnamen den des Vaters trug und auf dem wohl so viel Hoffnung, aber auch Verantwortung ruhte.
Sidy trennen nun keine tausende Kilometer mehr vom Ort des Todes seines Bruders, er ist jetzt in Dortmund. Neben ihm sitzt sein jüngerer Bruder Lassana, tags drauf werden die Brüder Dramé erstmals im Landgericht den Beamt*innen gegenübersitzen, die für den Tod ihres Mouhameds verantwortlich sind. Heute aber sind alle Blicke auf sie gerichtet: Damit die Worte der Familie in Deutschland gehört werden können, wurden Pressevertreter*innen in die Kanzlei von Lisa Grüter geladen. Die Rechtsanwältin wurde bereits Mitte August 2022 von der Familie für die Nebenklage mandatiert, hält seitdem engen Kontakt.
Sidy Dramé beginnt zu sprechen, möchte Persönliches über seinen Bruder berichten: »Mohammed hat uns so viel Liebe geschenkt. Wenn wir jetzt über ihn reden, über gute Sachen, die er in seinem Leben gemacht hat, würden wir den ganzen Tag hier sitzen.« Dann stockt ihm die Stimme. Entschuldigend lässt er übersetzen, dass ihn, sobald er über Mouhamed rede, die Gefühle überrollten. Und dennoch wird nun vieles greifbarer aus dem Leben des Bruders von Sidy und Lassana, jetzt, nachdem erstmals jene berichten, die ihn tatsächlich kannten.
Heute, zwei Jahre nach dem Tod Mouhameds, sind viele Einzelheiten des todbringenden Einsatzverlaufs bekannt. Gleichzeitig ist vor Gericht ein Kampf um Feinheiten entbrannt. Seit nunmehr 19 Prozesstagen wird darum gerungen, ob Mouhamed in den letzten Sekunden seines Lebens gegangen, gelaufen oder gerannt sei. Ob er sich schnell oder langsam erhob, nachdem er apathisch und zusammengekauert ein Messer gegen seinen Bauch gerichtet hatte. Als sich dann eine Wand von Polizist*innen vor ihm aufbaute und, wie der Prozess zeigte, weder der Einsatz von Pfefferspray, zweier Taser noch der Maschinenpistole angekündigt oder angedroht wurde. Fünf der sechs abgegebenen Schüsse trafen Mouhamed.
Für Sidy und Lassana Dramé ist die Prozessteilnahme zur Belastungsprobe geworden. Es sei »ganz und gar nicht gut«, immer wieder die letzten Minuten im Leben des Bruders zu durchleben, konstatiert Lassana an einem sonnigem Tag im Spätjuli.
Mouhamed und er, sie seien unzertrennlich gewesen. Stets lachend seien sie durch die Straßen Ndiaffates gelaufen, hätten über alles, aber besonders viel über Fußball geredet. Lassana war es auch, den Mouhamed irgendwann ins Vertrauen zog »nach Europa gehen zu wollen«. Zuvor sei der Bruder bereits immer häufiger zum Arbeiten in der Hauptstadt Dakar gewesen, weil es bei ihnen daheim im Dorf keinerlei Chancen gäbe, »für gar nichts«. Mouhamed kam dann mit Geld für die Familie zurück ins Dorf, schmiedete aber insgeheim größere Pläne.
Je besser man Lassana kennenlernt, desto mehr bekommt man ein Gefühl dafür, wie lebensfroh und lustig Mouhamed gewesen sein muss. Gleichzeitig glaubt auch Lassana den Schilderungen vor Gericht, wie sein Bruder vor seinem Tod in eine psychische Ausnahmesituation geriet. Das widerspreche nur gänzlich dem, wie er seinen Bruder erinnere und was dieser ihnen zu Hause erzählte, sagt Lassana.
Seiner Mutter Néné Fofana berichte er selbst aber nichts von den inneren Belastungen, die die letzten Monate für ihn und Sidy bereithielten: »Sie macht sich sowieso schon allzu viele Sorgen. Ich muss sie jeden Tag anrufen, um ihr zu sagen, dass alles gut ist.«
Sidy und er, sie seien hier für die Familie, für das Dorf Ndiaffate, für alle die Mouhamed kannten und denen sie sich verpflichtet fühlen. Um für Gerechtigkeit zu kämpfen, für ihren Bruder, für Mouhamed Lamine Dramé.
»Unbedingt wollte er in diese Stadt, redete ständig vom Fußballclub Borussia Dortmund.«
Britta Ehrenamtliche Helferin
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