- Kommentare
- Gewerkschaften
Entmündigung von ganz oben
Schaut nicht nach Brüssel, schaut auf die Arbeiter, fordert Christian Lelek
Brüssel meldet sich zu Wort – ganz wohlwollend sicherlich. Man will per EU-Mindestlohnrichtlinie die nationalen Mindestlöhne und die Tarifbindung erhöhen, also die Anzahl der Arbeitsverhältnisse, die durch einen Tarifvertrag bestimmt sind. In der Begründung beruft sich die EU-Kommission auf die Europäische Sozialcharta und auf gerechte Arbeitsbedingungen in der Union.
Bundesweit wie auch in der Hauptstadt werden die EU-Vorgaben bisher nicht erfüllt. Sollte sich daran bis November nichts ändern, fordert die EU einen Aktionsplan ein, wie die Ziele langfristig erreicht werden sollen. Wohlgemerkt: Die EU schreibt der Bundesregierung vor, doch bitte auf dem ureigensten Terrain der Gewerkschaften – Löhne und Tarifverträge – tätig zu werden.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund springt sofort bei, hat einen 14-Punkte-Plan parat, wie die Politik die Tarifbindung erhöhen kann. Die Gewerkschaftsführung macht Politik, die Politik macht Gewerkschaftsarbeit.
Nur wo bleibt die Rolle der Beschäftigten? Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften sinkt. Immer weniger Arbeiter*innen vertreten ihre Interessen selbst. Hat das etwas mit einem Mangel an Konfliktfreude und mutiger, eindeutiger Zielsetzung, mit einem fehlenden Bekenntnis zum Interessengegensatz mit dem Kapital zu tun? Vielleicht. Die eigentliche Frage, warum Gewerkschaften an Bedeutung verlieren, haben sie bisher selbst nicht beantwortet. Gut gemeinte, politische Schützenhilfe ist eine Alibi-Antwort auf diese Ahnungslosigkeit.
Wer die Antworten in Brüssel und nicht bei den Beschäftigten selbst sucht, entmündigt diejenigen, mit denen man es doch eigentlich nur gut meint.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.