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18. Arrondissement: Der Drogen-Hügel ist verschwunden
Was Olympia im 18. Pariser Arrondissement bewirkt hat
Wie schnell kann man sich an einem neuen Ort heimisch fühlen? Ich wohne im 18. Arrondissement, Montmartre, Rue du Sofia, sechster Stock, ein überhitztes Stübchen unterm Blechdach. Beim Einschlafen hört man nachts die Touristen vor der Basilika Sacré-Cœur singen. Kellner Amora, der stets vor seiner Bar »Le Paradis« herumsteht, grüßt mich mit Handschlag. Beim Aldi um die Ecke kaufe ich ein, bei »Chez Kar« gehe ich senegalesisch essen. Noch drei Tage, dann ist Paris 2024 vorbei, und ich fühle mich fast schon zu Hause hier im 18.
Als neulich bei einem Pressetermin nach dem Radrennen tatsächlich der Bürgermeister »meines« Arrondissements herumläuft, spreche ich ihn an: Tag, Herr Nachbar! Was bringt Olympia dem 18. Bezirk? Eric Lejoindre, 44, Sozialist, kommt sofort ins Schwärmen über die Spiele. Die neue Chapelle Arena! Teddy Riner, Frankreichs Judoheld, stammt aus dem 18.! Ein Bezirk voller Widersprüche, die Ärmsten und die Reichen leben im 18. Bezirk. Ich werde neugierig: Ob wir uns nicht zu einer Runde im Kiez verabreden wollen? »Na klar«, sagt er. »Schreiben Sie mir eine Nachricht, das machen wir!«
Mittwochvormittag, 10 Uhr, Treffpunkt Rue de la Chapelle, ein weitläufiger Boulevard mit grüner Fahrradspur und breitem Bürgersteig, an dem Hecken gepflanzt sind. Hochhäuser, ältere und nagelneue. Hohe Platanen spenden Schatten für eine Kindergartengruppe, die gerade vorbeispaziert, Hand in Hand, allesamt in Neonwesten. Lejoindre kommt mit dem Fahrrad angerollt. »Nun, was sagen Sie?«, fragt er, als er das Rad angeschlossen und den Helm verstaut hat. Er zeigt auf die sommerliche Idylle rundherum: »Willkommen in Porte de la Chapelle!«
Auf dem ehemaligen Crack-Hügel
Lejoindre hat an einen der sozialen Brennpunkte gebeten: Bis vor wenigen Jahren war Porte de la Chapelle noch als No-go-Area verschrien: Armut, Drogen, Kriminalität. »Collin de Crack« nannten die Pariser die Gegend: Crack-Hügel. Doch die Stadt Paris hat reichlich Geld fließen lassen, 60 Millionen allein für dieses neue Viertel, das nun La Chapelle International heißt, benannt nach dem Güterbahnhof, der fast ein Jahrhundert lang das Viertel prägte: Fracht aus aller Welt kam hier an, neben Kohle und Gas auch Korn, Gemüse, Obst. Die Versorgung der ganzen Stadt lief über diesen Umschlagplatz der Staatsbahn SNCF.
Wir spazieren los. »Noch vor fünf Jahren sah das hier ganz anders aus«, sagt Lejoindre und zeigt auf einen jener unzähligen Fahrradstellplätze, von denen Paris übersät ist. »Hier an der Ecke war eine Tankstelle und dort drüben gleich noch eine. Über die Fahrbahn der Rue de la Chapelle mit sechs Spuren brausten Autos, dazu gab es eine weitere Extraspur zum Parken.« Die Bürgersteige an der Rue de la Chapelle seien schmal gewesen. »Aber es wollte auch keiner hier innehalten. Diesen Teil der Stadt hat man nur durchquert, auf dem Weg zur Autobahn A1. So schnell wie möglich.«
Jirka Grahl berichtet zum vierten Mal von Olympischen Spielen.
Lejoindre erzählt gerne, sein Englisch ist gut, weil er seine Kindheit in den USA verbracht hat. Er ist ein freundlicher Mann mit gütigem Blick. Aufgeschlossen, zugewandt – gut vorstellbar, warum ihm die Bewohner des Arrondissements 2014 und 2020 die meisten Stimmen gaben. Der 18. Bezirk wählt traditionell eher links, Sozialist Lejoindre ist auf einer Liste zusammen mit den Grünen und den Kommunisten angetreten.
Schon seit 2004 wohnt er hier, mittlerweile mit Frau und drei Kindern. »Da hinten in dem Hochhaus war meine erste Pariser Wohnung«, sagt er und zeigt auf ein weißes Hochhaus. »Damals konnte man sich das als Student noch leisten.« Jetzt wohne er ein Stück entfernt in La Chapelle. Der 18. Bezirk ist aus zwei Gemeinden entstanden: Hier das mondäne Künstlerviertel Montmartre, in dem man schon für schlichte 25 Quadratmeter unter dem Dach 750 Euro bezahlt. Dort La Chapelle, ein »Quartier populaire«, ein eher armes Viertel mit einer migrantisch geprägten Bewohnerschaft. Ein Arrondissement der Gegensätze.
Prinzip der Durchmischung
Zwei schlanke, gut gekleidete Männer um die 60 sprechen Lejoindre an, offenkundig ein Paar. Und schwups, ist der Bürgermeister in ein Gespräch verwickelt. Die beiden fragen nach den goldenen Frauen-Statuen von der umjubelten Eröffnungsfeier: Ikonen des Feminismus wie Schriftstellerin Simone de Beauvoir oder Anarchistin Louise Michel, die bei der Party an der Seine in Gold verewigt worden waren. Stimmt es, dass die im 18. Arrondissement aufgestellt werden sollen? Wo genau? Nach ein paar Minuten Schwätzchen zieht das Paar weiter. Lejoindre kennt die Männer schon, von einer Veranstaltung: »Die beiden haben anfangs gezweifelt, ob es eine gute Idee ist, sich hier eine Wohnung zu kaufen«, sagt Lejoindre. »Jetzt sind sie sehr glücklich über ihre Entscheidung.«
Wir biegen ab in eine Seitenstraße. Die Häuser von La Chapelle International sind unregelmäßig angeordnet, manche sechs, manche 18 Stockwerke hoch, dazwischen begrünte Gassen und verkehrsberuhigte Bereiche. 800 Wohnungen seien hier in den letzten Jahren erbaut worden, zur Hälfte sozialer Wohnungsbau, zur Hälfte privat, erzählt der Bürgermeister. Soziale Durchmischung sei wichtig. Zudem brauche es auch für die Mittelklasse im teuren Paris sozialen Wohnraum: »Ein Lehrer und eine Sozialarbeiterin mit zwei Kindern, die werden sich in Paris höchstwahrscheinlich keine Wohnung auf dem privaten Markt leisten können.«
Die soziale Durchmischung sei auch für die Schulen gut: Die Grundschule von Chapelle International ist nagelneu, auf dem Dach ist der Schulgarten, in dem die Kinder Gemüse züchten. Lejoindre sagt, es gebe wirklich gute Schulen in der Nachbarschaft. Auch er schicke seine Kinder in La Chapelle auf die Schule: »Denen geht’s da gut.«
Wir erreichen eine Grünfläche, den Parc Charbon. Dass hier einst Kohle umgeschlagen wurde, erkennt man an den alten Bahnsteigen, die die Architekten zwischen den Wiesen haben stehen lassen. Es gibt Picknickplätze, Tischtennisplatten, Hängematten, nur an Menschen mangelt es an diesem Vormittag. Eine einsame Joggerin zieht ihre Runden. Hinter dem alten Gleisbett brettert derweil ein Regionalzug vorbei, die Bahnlinie führt noch immer hier entlang. Dahinter sieht man die Arena La Chapelle, ein weißer Klotz mit geschwungener Fassade. Eines von zwei Bauwerken, die für Paris 2024 neu errichtet worden sind: für Badminton und Taekwondo.
Nach den Spielen wird hier der Klub Paris Basketball vor bis zu 7000 Zuschauern auflaufen. Die Sporthalle wird dann wieder Adidas-Arena heißen. »Aber für die Bewohner haben wir auch zwei Hallen, sie werden dort nach Olympia Leute aus der Gegend treffen: Morgens Schüler, tagsüber Sportklubs, abends Leute, die Yoga machen.«
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Die rechte Hetzte ist widerlegt
Wir schlagen den Rückweg ein, nach ein paar Minuten kommen wir beim Fahrrad des Bürgermeisters an. In zwei Jahren wurde hier aus einer Ausfallstraße ein Boulevard. Lejoindre atmet durch. Ohne Olympia hätte man La Chapelle niemals in so schneller Zeit fertig bekommen, sinniert er. Weil es mehr Geld gab? »Nein, wegen der Deadlines. Alles ging viel schneller. Wir mussten es einfach rechtzeitig schaffen.«
Und was wird bleiben, wenn Olympia weg ist? Was ist das Beste an Paris 2024, Monsieur Bürgermeister? Lejoindre überlegt kurz: »Zwei Dinge: Zum einen all die Veränderungen die wir in Paris geschafft haben. Zum anderen aber haben wir vor allem das Paris-Bashing beendet. Die Rechten im Land haben zuletzt gehetzt, Paris sei schlimm, dreckig, gefährlich, es gebe zu viele schwarze Menschen und zu viele Homosexuelle. Nun hat ganz Frankreich gesehen: Sie lagen falsch. Paris ist großartig.«
Dann schließt er sein Fahrrad ab und radelt von dannen, auf zum nächsten Termin, er ist bei Olympia einer der Vertreter der Paris Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Ich hingegen spaziere in die Metro. Auf in die nächste Arena! Zwei Wochen in Paris, und schon fühlt man sich als Einheimischer.
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