Aktienmarkt: Panik! Chaos! Crash!

Was den Börsenboom befeuert, woran die Finanzmärkte derzeit zweifeln und was uns das alles überhaupt angeht

Aus Kurven die Zukunft lesen: Händler an der New Yorker Börse bei der Arbeit
Aus Kurven die Zukunft lesen: Händler an der New Yorker Börse bei der Arbeit

An der Börse herrscht wieder Aufregung, die es bis in die Abendnachrichten schafft. Aktienkurse fallen tief, erholen sich dann und fallen weiter. Die Berichterstattung ist in ihrem Element, spricht von »Panik«, »Blutbad«, »Chaos«. Das Publikum schaudert, die Fachleute aber geben mehrheitlich Entwarnung: An den Börsen finde nur eine »gesunde Korrektur« der »heißgelaufenen« Aktienkurse statt. Wie die Sache ausgeht, weiß man nicht. Verlässlich sind jedoch einige Auskünfte, die der Crash über die aktuelle Wirtschaftslage und ihre Deutung liefert.

Die Börsenberichterstattung

Ursächlich für den Börsenabsturz, so heißt es, seien »Konjunktursorgen«: An den Märkten gehe »die Angst vor einer Rezession in den USA um«. Anleger seien daher »verunsichert«, sie würden weltweit »risikoscheu und verkaufen Aktien« – soweit die leicht irreführende Deutung der Börsenberichte. Schließlich »sorgen« sich Investoren nie um die Konjunktur, sondern nur um eins: ihr Portfolio. Droht eine Konjunkturschwäche, versuchen sie daher, einem kommenden Kurssturz zuvorzukommen und verkaufen ihre Aktien zu niedrigeren Preisen – und führen kollektiv so den erwarteten Kurssturz herbei. Dies ist weder »Chaos«, noch herrscht »Panik«, vielmehr handelt es sich bloß um die Logik der Spekulation, die auf die Spekulationen der anderen Spekulant*innen spekuliert. Sicherheit gibt es in diesem Geschäft ohnehin nicht, und je größer die »Verunsicherung«, umso höhere Gewinne sind möglich.

Was derzeit an der Börse um sich greift, ist auch keine allgemeine »Risikoscheu« und keine »Verkaufswelle«. Jede Aktie, die jemand verkauft, wird von jemand anderem gekauft, wobei beide Seiten versuchen, einander übers Ohr zu hauen: Der Verkäufer will in Vorwegnahme eines Kurssturzes seine Aktie überteuert losschlagen, die Käuferin will in Vorwegnahme einer Kurserholung diese Aktie unter Preis erwerben. Hier herrscht keine Einigkeit der Risikoscheuen, sondern eine entgegengesetzte Bewertung des Risikos.

Die Börsenberichterstattung dagegen liefert eine moralische Erzählung von Gier und Angst, von Sorge und Panik, die das Spekulationsgeschehen zu einem menschlichen Drama verarbeitet. Ein Drama mit gutem Ausgang: »Was wir sehen, ist eine gesunde Korrektur, die zurück in die Normalität führt«, erklären die Analysten der Deutschen Bank. Wie beruhigend – was krank war, wird gesund, was unnormal war, wird normal und was falsch war, wird korrigiert und wieder richtig. Transportiert wird so das Ideal einer letztlich vernünftigen Spekulation auf die Zukunft, das dem verunsicherten Publikum Vertrauen in die Börse einflößen soll.

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Spekulation als Quelle

Wenn es am Finanzmarkt abwärts geht, wird dies stets als etwas Gefährliches wahrgenommen – und das, obwohl die Mehrheit der Menschen hierzulande gar keine Aktien besitzt. Doch irgendwie weiß jeder, dass die Börse nicht gänzlich unabhängig von der »Realwirtschaft« ist und dass dort nicht nur »heiße Luft« produziert wird. »Märkte können sich zwar von den ökonomischen Fundamentaldaten abkoppeln«, erklärt die niederländische Bank ABN Amro dieser Tage. »Gleichzeitig schaffen sie neue ökonomische Fundamentaldaten. Denn dramatische Kursbewegungen können den wirtschaftlichen Ausblick trüben, indem sie das Vertrauen unterminieren und damit die Finanzierungsbedingungen verschlechtern.«

Die Bank bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die Börse nicht nur auf die Zukunft der Wirtschaft spekuliert, sondern dort diese Zukunft auch geschaffen wird. Denn der Finanzsektor fungiert heutzutage quasi als das Steuerungszentrum der gesamten Wirtschaft, in ihm sammelt sich das anlagesuchende Kapital und wird über andere Sektoren der »Realwirtschaft« verteilt gemäß den Renditeerwartungen der Anleger*innen. Diese Erwartungen entscheiden darüber, welche Unternehmen Geld erhalten und welchen es verweigert wird, was in der Gesellschaft produziert wird und was nicht, was ökonomisch real wird und was Wunsch bleibt. Wenn ein Crash – wie in den vergangenen Tagen – über 6000 Milliarden Euro vernichtet, greift daher auch bei Nicht-Spekulanten die Sorge um sich, an den Märkten könnte schlechte Stimmung aufkommen.

Die Spekulation ist Ausgangs- und Endpunkt des realwirtschaftlichen Geschehens, ihre Berechnungen schaffen die Wirklichkeit, auf die an der Börse dann gewettet wird – mittels Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder Immobilien. Daher arbeitet die Politik in Europa derzeit daran, die Märkte nicht zu verkleinern, sondern zu vergrößern. »Pulsierende Kapitalmärkte werden benötigt, um die Wirtschaft der Zukunft zu finanzieren«, erklärt die Deutsche Bank. Und der Industrieverband BDI klagt: »Anders als in den USA gelingt es in Deutschland nicht im gleichen Maße, innovative und wachsende Unternehmen mit Risikokapital zu versorgen.« Gerade die Rüstungsindustrie soll künftig laut Bundesregierung mit mehr »Wagniskapital« ausgestattet werden.

Sinkende Kurse sind daher schlecht. Allerdings sind steigende Kurse auch nicht für alle gut. Deutlich wird dies am Immobilienmarkt. Wenn er boomt, nützt das den Eigentümer*innen und schadet den Mieter*innen, die die hochspekulierten Preise letztlich bezahlen müssen. Ähnlich ist es am Aktienmarkt: Wenn der Optimismus der Anleger*innen dort die Kurse steigen lässt, repräsentieren diese Kurse erhöhte Renditeansprüche der Finanzsphäre an den Rest der Gesellschaft – an Unternehmen, die Politik und die Arbeitnehmer*innen. Der Einwand, der Finanzmarkt sei »unsolide« und produziere Crashs, ist daher äußerst zahm. Wer an der Spekulation nur ihren Misserfolg kritisiert, kommt zu spät.

Arbeit als Ressource

Auslöser des jüngsten Börsencrashs war ein Arbeitsmarktbericht in den USA, laut dem die Arbeitslosenquote zuletzt leicht gestiegen ist. Nun hat die Börse nicht unbedingt etwas gegen Arbeitslose. Das weiß auch das Management des US-Chipkonzerns Intel, das 15 000 Jobs streichen will, um seinem Börsenkurs aufzuhelfen. Schließlich war die Börsenbewertung von Intel 2012 noch 15 Mal so groß wie die seines Konkurrenten Nvidia, heute ist Nvidia 20 Mal größer. Und für seine Expansion benötigt Intel in den nächsten Jahren 150 Milliarden Dollar, die es zum Großteil am Finanzmarkt einsammeln will. Den Investor*innen muss also etwas geboten werden: Massenentlassungen.

Mit ihrem jüngsten Absturz zeigt die Börse also nicht ihr Herz für die Arbeiterschaft. Die höhere Arbeitslosigkeit deutet sie bloß als Anzeichen für eine schwächere Konjunktur. Nur als das zählen die abhängig Beschäftigten den Börsianern: als potenzielle Ressource von Wachstum und Gewinn, die möglichst stark ausgelastet sein soll. Dies ist keine besonders perfide Perspektive von Finanzinvestoren, auch für Volkswirte ist der »Beschäftigungsgrad« eine Kennziffer für die gesamtgesellschaftliche Kapazitätsauslastung. Wenn weniger gearbeitet wird – entweder wegen Entlassungen oder wegen Arbeitskräfteschwund – dann leiden darunter Wachstum und Rendite, was die Börse derzeit mit Kursrückgängen quittiert und damit klarstellt, wer hier wem zu dienen hat: die Lohnabhängigen dem Wachstum.

Künstliche Intelligenz

Um diesen Dienst der Arbeit am Wachstum effektiver zu machen, wird derzeit auf Künstliche Intelligenz (KI) gesetzt – auch an der Börse. Ein großer Teil der Aktienkurssteigerungen der vergangenen Monate beruhte auf der Erwartung, KI werde die Beschäftigten produktiver und damit rentabler machen. Diese Hoffnung trieb den US-Technologieaktienindex Nasdaq 100 zwischen Jahresbeginn und Mitte Juli um ein Fünftel nach oben. Zum Kurssturz führten dann Zweifel, ob sich die Produktivitätsgewinne überhaupt einstellen würden und dies die massiven Investitionen in KI zeitnah lohnend machten.

Doch selbst wenn KI die Produktivität deutlich steigen lassen würde, machte dies nicht automatisch alle wohlhabender. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) kann der Einsatz von KI die soziale Ungleichheit vertiefen, schließlich nutzen Unternehmen Technik, um Arbeitskräfte abzubauen und durch billigere Maschinen zu ersetzen und gleichzeitig die Qualifikationen verschiedener Berufsgruppen zu entwerten. KI könne daher »einerseits zu niedrigeren Betriebskosten und höherer Produktivität führen«, erklärt Allianz Research, »andererseits aber auch zu massiver Verdrängung von Arbeitskräften, Arbeitsplatzverlusten und letztlich zu größerer Ungleichheit«.

Gewinner wäre auf jeden Fall das Kapital, da es laut IWF Arbeitnehmer*innen durch Maschinen und KI ersetzt, um seinen Anteil am Gesamteinkommen zu steigern. Auf ein weiteres Einsatzfeld der KI macht der Kulturwissenschaftler Michael Seemann in einer Studie für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung aufmerksam: Durch KI »ergeben sich neue Möglichkeiten, Beschäftigte zu überwachen und ihre Leistung zu bewerten«. Dies könne genutzt werden, um den Konkurrenzdruck innerhalb der Belegschaft zu erhöhen – zu Lasten der Arbeitnehmer*innen und zum Wohle der Unternehmenseigentümer*innen.

Das sind die Hoffnungen, auf denen der Börsenboom beruht. Die Analysten der DZ Bank sind sich sicher, dass sie sich letztlich erfüllen werden. Die »momentane Phase ändert nichts daran, dass wir KI weiterhin enormes längerfristiges Potenzial zugunsten von Kosteneinsparungen zutrauen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Trend in nicht allzu ferner Zukunft wieder positive Schlagzeilen produzieren wird.«

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