Israel nimmt erneut Chan Junis ins Visier

Internationale Kritik an der Regierung Netanjahu nach Luftangriff auf Flüchtlingsunterkunft mit vielen Toten

  • Lesedauer: 4 Min.
In Jerusalem wurde am Samstag vor der Residenz des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu für ein Geisel-Befreiungsabkommen demonstriert.
In Jerusalem wurde am Samstag vor der Residenz des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu für ein Geisel-Befreiungsabkommen demonstriert.

Tel Aviv. Die israelische Armee hat vor einem neuen Militäreinsatz in Chan Junis Einwohner eines nördlichen Stadtviertels dazu aufgerufen, das Gebiet unverzüglich zu verlassen. Sie sollten sich in eine humanitäre Zone begeben, deren Grenzen neu gezogen worden seien, teilte die Armee den Menschen per SMS, Telefonat sowie Medienberichten in arabischer Sprache und mithilfe von Flugblättern mit. Chan Junis liegt im südlichen Gazastreifen.

Israel wirft militanten Palästinensern vor, sie hätten die humanitäre Zone für »terroristische Aktivitäten und Raketenangriffe auf den Staat Israel« missbraucht. Daher würden die Grenzen der humanitären Zone angepasst. Dies geschehe auf der Basis präziser Geheimdienstinformationen, denen zufolge die islamistische Hamas ihre Infrastruktur in dem Gebiet eingebettet habe.

Bei einem verheerenden israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude in der Stadt Gaza waren am Samstag nach palästinensischen Angaben Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Ein Sprecher des palästinensischen Zivilschutzes sprach von mindestens 93 Toten in dem als Flüchtlingsunterkunft genutzten Gebäude. Der Vorfall rief international Kritik hervor. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich entsetzt über den Angriff. »Mindestens zehn Schulen wurden in den vergangenen Wochen ins Visier genommen. Es gibt keine Rechtfertigung für diese Massaker«, schrieb er auf der Plattform X. Die US-Regierung zeigte sich »zutiefst besorgt« über die Berichte zu zivilen Opfern.

Das israelische Militär bestätigte den Angriff, der einer Kommandozentrale der Hamas in dem angegriffenen Objekt gegolten habe. Dabei seien mindestens 19 Kommandeure und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad getötet worden, hieß es.

Zehn Tage nach der Tötung zweier hochrangiger Feinde Israels in Teheran und Beirut ist weiterhin unklar, ob und wann der Iran und die libanesische Schiiten-Miliz Hisbollah die angedrohten massiven Vergeltungsschläge gegen Israel ausführen werden. Seit Tagen sind die dessen Streitkräfte in höchster Alarmbereitschaft. Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, brachten zusätzliche Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in die Region. Israel und seine Verbündeten gehen davon aus, eine große Zahl von Raketen und Drohnen abfangen zu können. Sollte es dennoch viele Opfer geben, könnte Israel seinerseits mit massiver Vergeltung reagieren. Dies wiederum könnte eine unkontrollierbare Eskalation und einen großen Nahost-Krieg auslösen.

Zugleich laufen hinter den Kulissen Bemühungen, um die explosive Lage durch diplomatische Anstrengungen zu entschärfen. Im Mittelpunkt stehen dabei die seit Monaten feststeckenden indirekten Gespräche zwischen Israel und der Hamas, um ein Ende des seit zehn Monaten andauernden Gaza-Kriegs einzuleiten und die Freilassung von mehr als 100 Geiseln in der Gewalt der Hamas zu erreichen. Dabei vermitteln die USA, Ägypten und Katar. Eine geplante Gesprächsrunde am kommenden Donnerstag in Kairo oder in Doha könnte dabei entscheidend werden.

In Tel Aviv und anderen israelischen Städten demonstrierten am Wochenende Tausende Menschen für ein Gaza-Abkommen, das zur Freilassung von Geiseln führen soll. Die islamistische Hamas und andere Gruppen aus dem Gazastreifen hatten am 7. Oktober des Vorjahres den Süden Israels überfallen, mehr als 1200 Menschen getötet und weitere 250 als Geiseln verschleppt. Während einer kurzen Waffenruhe waren mehr als 100 Geiseln freigekommen.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat in einem Telefonat am Sonntag mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu große Sorge über die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes im Nahen Osten zum Ausdruck gebracht. Mehr denn je komme es jetzt darauf an, die destruktive Spirale von Vergeltungsgewalt zu durchbrechen.

Substanzielle Schritte zur Beilegung des Gaza-Kriegs erhalten dadurch zusätzliches Gewicht, dass der Iran und die Hisbollah in der Vergangenheit mehrfach betonten, die Feindseligkeiten gegen Israel herunterschrauben zu wollen, sobald Israel den Krieg in Gaza beendet. Größtes Hindernis bei den Verhandlungen war zuletzt die unnachgiebige Haltung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Durch immer neue Forderungen hatte er zuletzt Schritte zu einer Einigung blockiert. Der Premier regiert in einer Koalition mit rechtsextremen und ultra-religiösen Parteien. Diese drohen mit einem Platzen der Regierung, sollte Netanjahu gegenüber der Hamas Zugeständnisse machen. dpa/nd

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