»Wir müssen die Isolation durchbrechen«

Die Anwältin Rengin Ergül über die Haft des kurdischen Politikers Abdullah Öcalan

  • Interview: Tim Krüger
  • Lesedauer: 5 Min.
Auch beim Neujahrsfest Newroz wird das Konterfei von Abdullah Öcalan hochgehalten.
Auch beim Neujahrsfest Newroz wird das Konterfei von Abdullah Öcalan hochgehalten.

69 Nobelpreisträger haben sich jüngst in einem offenen Brief gegen die Isolationshaft des in der Türkei gefangen gehaltenen kurdischen Politikers und Revolutionärs Abdullah Öcalan ausgesprochen und verschiedene Institutionen der EU sowie der UN zum Handeln aufgefordert. Können Sie uns mehr über die Haftbedingungen Öcalans erzählen?

Abdullah Öcalan wird seit dem 15. Februar 1999 in einer Einzelzelle auf der Insel Imrali gefangen gehalten und wurde zuerst zur Todesstrafe verurteilt, die später in eine »verschärfte lebenslänglichen Freiheitsstrafe« umgewandelt wurde. Das bedeutet, dass er bis zum Ende seines Lebens in Einzelhaft bleiben muss, aber dennoch das Recht hat, sowohl seine Familie als auch seine Verteidiger in regelmäßigen Abständen zu sehen. Diese Rechte dürfen nicht eingeschränkt werden. Doch auf der Gefängnisinsel herrscht ein rechtlicher Ausnahmezustand. Seit mehr als drei Jahren hat Öcalan weder Kontakt mit seiner Familie noch mit seinen Anwälten.

Wie rechtfertigt die türkische Justiz diese Situation?

Wenn es darum ging, Treffen auf der Insel zu unterbinden, so hat der türkische Staat früher immer wieder Ausreden vorgeschoben wie: »Das Wetter ist für eine Überfahrt zu schlecht« oder: »Das Boot ist kaputt.« Doch in den vergangenen Jahren wird das Besuchsrecht von Öcalan durch sogenannte Disziplinarstrafen eingeschränkt. Wenn derlei Einschränkungen über einen solch langen Zeitraum fortgesetzt werden, dann müssen wir nach internationalen Standards und geltendem türkischen Recht von Folter sprechen.

Interview

Rengin Ergül ist Rechtsanwältin und Mitglied im Verein der Anwälte für die Freiheit (ÖHD) sowie im MAF-DAD Verein für Demokratie und Internationales Recht, in dem sich kurdische, türkische und deutsche Jurist*innen und Menschen­rechts­aktivist*innen zusammen­geschlos­sen haben. Der Verein setzt sich für die Belange des in der Türkei inhaftierten kurdischen Politikers Abdullah Öcalan ein.

Und weswegen wurden die Disziplinarstrafen verhängt?

Das ist auch ein Problem für sich. Den Anwälten werden die Gründe nicht mitgeteilt. Sie sprechen nur sehr generell von »allgemeinen Sicherheitsgründen«.

Gibt es in der Türkei vergleichbare Haftbedingungen bei anderen Gefangenen?

Teils, teils. Seit dem Moment, da Öcalan im Rahmen eines internationalen Komplotts verhaftet und in die Türkei gebracht wurde, waren seine Haftbedingungen außergewöhnlich. So wurde die Gefängnisinsel Imrali allein für ihn neu eröffnet. Wir haben immer davor gewarnt, dass, wenn kein Einspruch gegen seine Isolation erhoben wird, diese Maßnahmen auch auf andere Gefängnisse ausgeweitet werden. Heute werden vor allem die politischen Gefangenen in den neu errichteten S-Typ- und Y-Typ-Gefängnissen auch in Einzelhaft gehalten.

Wissen Sie, wie viele politische Gefangene unter dieser Behandlung leiden?

Der türkische Staat schweigt darüber auch auf Nachfrage. Doch laut dem UN-Ausschuss gegen Folter gibt es fast 4000 Gefangene, die mit einer »verschärften lebenslänglichen Freiheitsstrafe« belegt wurden. Es ist anzunehmen, dass es sich bei einem großen Teil um kurdische und linke politische Gefangene handelt.

Wann haben die Anwälte Öcalans ihren Mandaten zuletzt zu Gesicht bekommen?

Zwischen Mai und August 2019 gab es insgesamt fünf Treffen mit den Anwälten. Weil 2019 Tausende politische Gefangene mit der Forderung einer Aufhebung der Isolation Öcalans in einen Hungerstreik getreten waren, musste der türkische Staat einen Schritt zurück machen und die Tore Imralis kurzzeitig öffnen. Auch das Telefongespräch mit seinem Bruder am 25. März 2021 – das letzte direkte Lebenzeichen – war eine Ausnahme. Doch wichtig ist: 2019 haben wir gesehen, dass wir mit unserem Kampf die Isolation durchbrechen können.

Welches politische Interesse verfolgt die Regierung Erdoğans mit der Isolation Öcalans?

Der türkische Staat verfolgt mit der Isolation Abdullah Öcalans eine ganz besondere Absicht. Das kurdische Volk betrachtet Herrn Öcalan als seinen politischen Repräsentanten, daher heißt die Adresse für eine Lösung der kurdischen Frage Imrali. Das Festhalten an der verschärften Isolation zeigt offensichtlich, dass der türkische Staat keine Absichten hegt, eine Lösung für dieses Problem zu finden und den Kurden einen rechtlichen Status zuzuerkennen. Die Isolationshaft gegen Öcalan bedeutet eine Blockade der Lösung der kurdischen Frage.

Was sind Ihre Erwartungen an europäische und internationale Institutionen?

Erst im Juli waren wir bei der Sitzung des UN-Ausschusses gegen Folter in Genf. Wir können als positiv bewerten, dass sie in ihrem neuen Bericht die Folter in den türkischen Gefängnissen angesprochen haben. Denn der türkische Staat versucht es immer wieder so darzustellen, als gäbe es keine Folter in den Gefängnissen. Als Anwälte stellen wir immer wieder Anfragen, statten Besuche ab und senden Berichte an die Institutionen der UN oder der EU, um aufzudecken, dass die Türkei ein Staat ist, in dessen Gefängnissen gefoltert wird. Im Allgemeinen kommen die Vereinten Nationen, der Europarat und auch sein Komitee zur Prävention von Folter, CPT, ihren Pflichten nicht nach. Wenn sie die Lage nur ansprechen und am Ende nichts tun, dann tragen auch sie eine Mitschuld an der Folter in den Gefängnissen und an der Isolation Abdullah Öcalans.

Insofern kommt Ihnen der Aufruf der Nobelpreisträger gelegen?

Ja. Besonders vor diesem Hintergrund war der jüngste Aufruf sehr wichtig und wertvoll. Die Isolationshaft, die Folter und die Frage der Freiheit Abdullah Öcalans gehen nicht nur die Anwälte und einzelne Institutionen etwas an. Auch Intellektuelle, Menschen der Politik, zivilgesellschaftliche Akteure und Künstler der Türkei, des Mittleren Ostens und Europas sollten sich dieser Frage annehmen und sich für Öcalan einsetzen. Wenn die europäischen Staaten, was die Menschenrechte betrifft, für sich eine ganz besondere Position beanspruchen, dann müssen sie auch in der Frage Abdullah Öcalans die nötigen Schritte unternehmen und Druck auf die Türkei aufbauen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal