Organisation »Combatants for Peace«: Teilen statt teilen

Rotem Levin und Osama Iliwat von der Organisation Combatants for Peace treten dafür ein, dass Araber und Juden im Nahen Osten gemeinsam leben

  • Interview: Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 7 Min.
Arabische und jüdische Friedensaktivist*innen von Combatants for Peace demonstrieren in Israel für einen Waffenstillstand und setzen sich für die Freilassung der israelischen Geiseln ein.
Arabische und jüdische Friedensaktivist*innen von Combatants for Peace demonstrieren in Israel für einen Waffenstillstand und setzen sich für die Freilassung der israelischen Geiseln ein.

Rotem Levin und Osama Iliwat, als Vertreter von Combatans for Peace bereisen Sie zurzeit Deutschland und setzen sich in ihren Vorträgen für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts ein. Dabei dienten Sie beide einst in verfeindeten Armeen. Wie überzeugten Sie sich selbst vom Frieden?

Levin: Meine Veränderung begann erst nach meinem dreijährigen Militärdienst. Im Rahmen eines Programms zur Völkerverständigung reiste ich nach Deutschland, um an einem Dialog mit Palästinensern aus dem Westjordanland teilzunehmen. Das war der Beginn meiner Transformation. Damals begann ich, die Sichtweise, mit der ich aufgewachsen war, zu hinterfragen. Während der zweiten Intifada war ich nämlich zehn Jahre alt, und es gab damals viele Selbstmordattentate, vor allem auf Busse. Weil man uns in der Schule kein Arabisch beigebracht hatte, hatte ich als Kind immer Angst, wenn ich in den Bussen Arabisch hörte. Ich befürchtete, dass sich jemand in die Luft sprengen könnte. So zog ich es oft vor, meinen Bus vor meinem eigentlichen Zielort zu verlassen.

Mit 27 Jahren zogen Sie in ein palästinensisches Dorf im Westjordanland. Welche Rolle spielte diese Erfahrung?

Levin: Das war mein wichtigster Schritt. Ich zog dorthin, um mit Freunden zu leben, die ich zuvor kennengelernt hatte. Das hat mir geholfen, das kollektive Trauma zu heilen, was ich verinnerlicht hatte. Denn mein ganzes Leben lang erzählte man mir, dass ich den Palästinensern nicht trauen sollte, dass sie mich nur angreifen wollen, ja, dass sie mich am liebsten ins Jenseits befördern würden, wenn sie nur könnten. Nach ein paar Monaten habe ich aber Vertrauen aufgebaut, ich lernte Arabisch und konnte plötzlich verstehen, was die Leute um mich herum redeten. Wenn ich dann im Bus Arabisch hörte, war ich nicht mehr eingeschüchtert, weil ich verstand, dass niemand vorhatte, mich anzugreifen, sondern dass sie sich überlegten, wo sie Falafel essen gehen könnten. Ich erkannte, dass auf der anderen Seite der Mauer ganz normale Menschen leben.

Osama Iliwat, von 1995 bis 1998 dienten Sie als Polizist in Palästina. Doch Sie verließen die Polizei und schlossen sich dem bewaffneten Widerstand an. Warum?

Iliwat: Ich wurde Polizist, um den Friedensprozess zu unterstützen, denn ich wuchs unter der Besatzung auf. Meine Kindheit war voller Furcht. Ich hatte Angst vor dem täglichen Leben, vor den Soldaten, die jeden Tag durch die Straßen patrouillierten. Mein größter Traum war es, frei zu sein. Aber irgendwann wurde mir klar, dass der Friedensprozess nicht wirklich funktioniert. Ich empfand das System im Westjordanland als ein Kontrollsystem, das uns zum Schweigen bringen will, während die Besatzung sich immer mehr ausweitet. Die Zahl der Siedler wuchs so stark, dass sie fast das ganze Land in Beschlag nahmen. Also ging ich weg und schloss mich dem Widerstand an. Hoffnung sah ich damals nur noch im bewaffneten Kampf gegen die Besatzung. Ich war sieben Jahre lang im Widerstand.

Interview

Osama Iliwat (oben) war palästinen­sischer Widerstandskämpfer,
Rotem Levin Soldat der israelischen Armee. Beide standen einst auf verschiedenen Seiten des Nahostkonflikts. Heute setzen sie sich mit der Nichtregierungsorganisation Combatants for Peace für Dialog zwischen Palästinenser*innen und Israelis ein.

Was motivierte den bewaffneten Freiheitskämpfer zum Friedensaktivismus?

Iliwat: Das war im Jahr 2010, ich wurde damals zusammen mit einem Freund zu einem Friedensdinner eingeladen. Ich ging hin und sah dort Israelis. Ich war überrascht, ich war wütend, ich konnte nicht glauben, dass es Israelis gibt, die bereit wären, mit mir gegen das System ihres eigenen Landes zu kämpfen. Das machte mich aber irgendwie auch neugierig, mehr zu erfahren. Ich wollte wissen, wie viele solcher Menschen es gibt, was sie glauben und welche Überzeugungen sie haben. Also hörte ich mir an, was sie zu sagen haben, und hörte zum ersten Mal die Geschichte des jüdischen Volkes. Zwei Jahre lang lebte ich illegal in Israel, aber irgendwie fühlte ich mich trotzdem zum täglichen Leben dazugehörig. Wenn am Freitagnachmittag alles geschlossen war, es ein Schabbat-Essen gab und morgens alle frei hatten, das konnte ich sehr gut mitfühlen. Ich lernte die Sprache und begann zu verstehen, dass es tatsächlich einen Weg gibt, wie wir dieses Land in Frieden miteinander teilen können. Wir alle tragen diesen Frieden in unseren Herzen, aber wir haben Angst, ihn zu zeigen.

Sie organisieren Touren für Israelis in die besetzten Gebiete und sind an Treffen mit Jugendgruppen beteiligt. Welche Erfahrungen machen Sie mit Ihrem Engagement in der Krisenregion?

Levin: Wir begegnen viel Ignoranz. Die Leute haben falsche Informationen. Sie wachsen in einem System auf, das alle Ungerechtigkeiten gegenüber den Palästinensern rechtfertigt oder ganz verschweigt. Ich selbst habe von der Nakba (Vertreibung und Flucht der arabischen Palästinenser*innen nach dem Palästinenser-Krieg 1947 – 1948, Anm. d. Red.) zum ersten Mal im Alter von 23 Jahren gehört. Palästinenser hatten mir davon erzählt. Vorher wusste ich nichts von den Flüchtlingslagern, von den vielen Massakern, die 1948 und danach passierten. Wir versuchen aufzuklären, wie dieses Apartheidsystem funktioniert, denn die Menschen wissen nicht, dass auf demselben Land zwei Gesellschaften mit völlig unterschiedlichen Rechten leben. Der eine ist Bürger und bekommt alles, das System funktioniert für ihn; der andere lebt unter militärischen Regeln, ist nicht durch das System geschützt und kann keine Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Wir arbeiten also gegen die Unwissenheit an.

Combatants for Peace veranstaltet jährlich eine Gedenkzeremonie anlässlich der Nakba, an der auch Israelis teilnehmen. Was ist die Idee hinter dieser Zeremonie?

Levin: Die Nakba-Zeremonie findet im Westjordanland statt. Sie wird unter der Federführung von Palästinensern gemeinsam mit Israelis organisiert. Als Israelis müssen wir zuerst anerkennen, was im Jahr 1948 geschah und dabei auch sehen, was heute geschieht. Bei der diesjährigen Nakba-Feier ging es deswegen vor allem um den Gazastreifen. Was dort derzeit geschieht, ist eine Fortsetzung der Nakba. Wenn während der Nakba 1948 etwa 15 000 Menschen getötet wurden, sind es heute beinahe 40 000. 1948 wurden 700 000 Menschen vertrieben, heute reden wir von zwei Millionen, die ihr Zuhause verloren haben. Indem wir der Nakba gedenken, sagen wir auch: Diese Sache passiert immer noch. Wir müssen diesen Praktiken der ethnischen Säuberung ein Ende setzen, weil dies der einzige Weg ist, Sicherheit für uns alle zu schaffen.

Sicherheit für alle. Angesichts der eskalierenden Gewalt gegen die Menschen im Gazastreifen scheint der so bitter nötige Frieden unmöglich. Woraus ziehen Sie Hoffnung für Ihre politische Arbeit?

Iliwat: Was gibt mir Hoffnung? (Schweigt länger) Ich glaube, dass wir uns verändern können, wenn wir uns gegenseitig brauchen, wenn wir die Ängste und die Bedürfnisse des Anderen verstehen und vor allem, wenn wir die Opferrolle loswerden. Solange man sich in dieser Opferrolle befindet, kommt man nicht weiter. Es gibt mir also Hoffnung, wenn ich den Raum der Opferrolle verlasse und die Menschen als Menschen sehe und andersherum von anderen Menschen ebenso als Mensch wahrgenommen werde. Wenn ich sehe, wie die Jugend an den Universitäten und auf der ganzen Welt für die Menschenrechte eintritt und sich dafür einsetzt, dass das Töten von Unschuldigen aufhört, gibt mir das Hoffnung. Kein Konflikt ist für immer. Menschen, die gegeneinander kämpften, konnten einen Weg finden, um miteinander zu leben. Und ich glaube, dass dies auch in unserem Land möglich ist. Irgendwie leben wir gemeinsam an einem Ort. Was uns dabei immer wieder in Konflikte bringt, ist, dass wir nicht die gleichen Rechte haben und dass Gesellschaftssystem nur einer Seite dient. Aber wenn das System anfängt, für alle zu funktionieren, wird es uns besser gehen. Dann können wir gemeinsam auf diesem Land leben, ohne es teilen zu müssen. Ich glaube ohnehin, dass man das Land nicht teilen kann.

Was meinen Sie damit?

Iliwat: Ich glaube, dass sowohl Palästinenser als auch Israelis auf dem ganzen Land leben wollen. Zum Beispiel ist das Westjordanland eine der heiligsten Stätten für die Juden. Man kann ihnen also nicht sagen, dass sie das Land, von dem sie geträumt haben, verlassen sollen. Und für viele Palästinenser sind die Städte Haifa oder Jaffa ihre Heimat, dort waren die Häuser ihrer Großeltern, ihr Zuhause. Sie wollen Zugang dazu haben. Sie wollen an den Strand gehen und ihre Geschichte und ihr Leben sehen. Wir können das System aufteilen, aber nicht das Land. Es könnten zwei offene Staaten sein, wo jeder überall leben und arbeiten kann und die Gesetze des anderen Landes respektiert, sowas wie in Europa. Dadurch wird das Land selbst nicht aufgeteilt und jeder kann überall und in Sicherheit leben. Damit das möglich wäre, müsste sich natürlich viel verändern. Denn die Wirklichkeit sieht gerade so aus, dass 200 Siedler mehr landwirtschaftliche Fläche besitzen, als meine Heimatstadt groß ist. Und das ist nicht fair. Es ist sicherlich möglich, das Land miteinander zu teilen. Das geht aber nur, wenn es Gerechtigkeit gibt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.