Vom Profi bis zum Amateur-Fußballer: Die neue Kapitänsregel wirkt

Der DFB hat eine Regeländerung beschlossen – und zur Abwechslung finden sie (fast) alle gut

»Schiri, ich sag doch gar nichts!« Düsseldorfs Felix Klaus erhielt von Schiedsrichter Robert Hartmann die Gelbe Karte.
»Schiri, ich sag doch gar nichts!« Düsseldorfs Felix Klaus erhielt von Schiedsrichter Robert Hartmann die Gelbe Karte.

Es war ein oft gesehener Anblick: Sieben, acht Spieler, die wild gestikulierend und mit entgleisenden Gesichtszügen auf den Schiedsrichter zulaufen, um ihn auf möglichst beeindruckende Weise davon zu überzeugen, dass er soeben eine skandalöse Fehlentscheidung getroffen hatte. Der Anblick wild gewordener Herren im Testosteron-Rausch schien all jene zu bestätigen, die dem Fußball per se skeptisch gegenüberstehen. Zumal ein solches Schauspiel in anderen Sportarten (und beim Fußball der Frauen) ja tatsächlich undenkbar wäre, bei den männlichen Kickern aber häufig auch dann zu beobachten war, wenn die vermeintlich himmelschreiende Ungerechtigkeit aus einem falschen Einwurf in Höhe der Mittellinie bestand.

Für die bedauernswerten Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen war das Ganze gleich in mehrfacher Hinsicht ein Ärgernis: Zum einen, weil es wohl jedem Menschen schwerfällt, sachlich zu argumentieren, wenn er aus allen vier Himmelsrichtungen angebrüllt wird. Zum anderen, weil auch der schläfrigste Fan auf der Tribüne durch das aufbrausende Geschehen auf dem Rasen plötzlich davon ausgehen musste, dass sein Team grandios verpfiffen wird und den Schiri daraufhin bis zum Abpfiff mit »Schieber«-Rufen eindeckt. Zum dritten, weil vor allem im unterklassigen Fußball »Rudelbildungen« oft der Ausgangspunkt für Prügeleien auf dem Platz waren. Und zum vierten, weil die Unsitte in Zeiten von Social Media längst hinunter bis in den Jugendbereich geschwappt war. Achtjährige imitieren eben nicht nur den breitbeinigen Cristiano Ronaldo vorm Freistoß, sondern auch das aggressive Gehabe von Profi-Rudeln.

Der Problemdruck war also da, als der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Mitte Juli beschloss, künftig für alle seine Spielklassen die sogenannte Kapitänsregel einzuführen. Diese bei der Europameisterschaft zuvor erprobte Neuerung besagt, dass bei vermeintlichem Klärungsbedarf nur noch der Kapitän des jeweiligen Teams beim Schiedsrichter vorsprechen darf – die anderen zehn Spieler beider Mannschaften halten sich zurück. Tun sie es nicht, sehen sie die Gelbe Karte.

Zum ersten Mal war die Regel einen Monat zuvor, am 14. Juni 2024 im EM-Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland zum Einsatz gekommen – wie daraufhin bei allen weiteren EM-Spielen. Sie fand vom ersten Tag an so viel Zustimmung, dass der DFB noch während des Turniers entschied, sie auch in allen nationalen Wettbewerben einzuführen. Bundesliga-Referee Sascha Stegemann begründete das damals bei einem Medientermin in Frankfurt am Main nicht zuletzt mit dem zivilisatorischen Rückstand gegenüber anderen Sportarten: »Wir werden immer wieder gefragt, wieso wir das im Fußball nicht hinkriegen, dass es bei uns so respektvoll wie im Handball oder Rugby abläuft.«

Mittlerweile sind in den deutschen Amateurklassen sowie in den Profiligen zwei bis vier die ersten Spieltage bereits absolviert, und es lässt sich ein erstes Fazit ziehen, das einer Sensation gleichkommt: Der DFB hat eine Regeländerung beschlossen – und (fast) alle finden sie gut. Ein paar Beispiele:

»Spieler, die zu meckern anfangen, werden jetzt sogar von Kollegen ermahnt, ruhig zu sein. Das gab es noch nie, seit ich Schiedsrichter bin.«

Marvin Schories Fußball-Referee

Freitag, 9. August, vierter Spieltag der nach einem Wurstproduzenten benannten »Schröder Saarlandliga«, einer der vielen sechsten Ligen des deutschen Fußballs. Der ziemlich tief gesunkene Traditionsverein Borussia Neunkirchen, der in den Sechzigern drei Jahre in der Bundesliga spielte, empfängt vor 350 Zahlenden Saar 05 Saarbrücken. Gästefans sind auch nach intensiver Suche auf allen drei Tribünenseiten nicht auszumachen, dementsprechend gelassen ist die Atmosphäre auf und neben dem Platz. Schiedsrichter Tobias Ewerhardy vom SV Wahlen-Niederlosheim pfeift gut und muss keine einzige Gelbe Karte zeigen. Rudelbildungen gibt es keine, selbst die beiden Kapitäne haben über 90 Minuten keinerlei Gesprächsbedarf mit dem souverän leitenden Referee.

Das gleiche Bild tags darauf in der zweiten Bundesliga, als 37 000 Fans beim 0:0 des Karlsruher SC in Düsseldorf eine Partie ohne Rudelbildung und ähnliche Ärgernisse sehen. »Von beiden Seiten ist alles ruhig verlaufen«, bilanziert Marvin Wanitzek, der die Regel grundsätzlich positiv findet. Wenig hielte der KSC-Kapitän allerdings davon, alle Gefühlsausbrüche auf dem Platz ahnden zu wollen. »Fußball ist und bleibt ein emotionaler Sport, es wird immer Szenen geben, bei denen man sich auch einmal zu Recht aufregt.« Wenn dann sofort eine Gelbe Karte gezogen werde und ein Spieler nach der darauffolgenden vom Platz fliege, wie es Schalkes Ron Schallenberg in Nürnberg (1:3) widerfuhr, sei das keine gute Entwicklung. »Man kann nicht immer seine Emotionen unterdrücken«, so Wanitzek.

Das sei auch gar nicht die Intention der Regel, versichert Referee Tobias Ewerharty, der die Sechstliga-Partie in Neunkirchen geleitet hatte. Wenn ein Spieler nach einem Foul in Höhe der Mittellinie sachlich Kritik äußere, solle auch dann keine Gelbe Karte gezeigt werden, wenn derjenige nicht Kapitän sei. Anders sei es bei spielentscheidenden Szenen, die dann schnell aus dem Ruder laufen könnten. Auf die von ihm selbst geleitete Partie im Saarland angesprochen, relativiert er das Lob: »Das war eine leicht zu leitende Partie – ohne strittige Elfmeterentscheidungen oder Rote Karten.« Doch seit Einführung der Regel liefen die Spiele »ja fast flächendeckend viel disziplinierter ab. Ich kenne jedenfalls niemanden im Fußball, der die Einführung nicht total positiv fände.«

Ähnlich gute Erfahrungen hat am anderen Ende der Republik Marvin Schories gemacht, der als Schiedsrichterobmann des Kreises Harburg und als Konfliktlotse im Niedersächsischen Fußball-Verband fungiert. Seit Einführung der Kapitänsregel hat er in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen drei unterklassige Partien gepfiffen – und zieht ein durchweg positives Fazit: »Die Regel funktioniert und erfüllt ihren Zweck, indem sie die Attraktivität des Spiels erhöht und zu mehr fairem Verhalten führt.« Alle Spieler, sagt Schories, hätten sich bei den von ihm geleiteten Partien am Riemen gerissen. »Sie wissen, was zu tun und zu lassen ist.« Noch bemerkenswerter findet er allerdings, dass »jetzt sogar Spieler, die zu meckern anfangen, von den Kollegen ermahnt werden, ruhig zu sein. Das gab es noch nie, seit ich Schiedsrichter bin.«

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