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Linke in Brandenburg: Fenster zum Landtag spaltbreit offen
Kerstin Kaiser will und kann ihren alten Wahlkreis gewinnen – und damit Brandenburgs Linke retten
Die Landtagskandidatin Kerstin Kaiser (Linke) setzt sich in Strausberg in den Schatten eines alten Nussbaums, nimmt Block und Stift in die Hand. Sie wirft die Namen von Parteien aufs Papier, notiert Prozentergebnisse, zieht Pfeile. Die Skizze zeigt die Ausgangslage in ihrem Landtagswahlkreis 32 und stellt dar, was sich unter diesen und jenen Umständen ergeben könnte. Kaiser spricht von einem, ihrem »Möglichkeitsfenster«. Vielleicht kann sie es zum Parlament einen Spaltbreit aufdrücken und hindurchschlüpfen. Obwohl es ihrer Partei zuletzt bei der Europawahl am 9. Juni mit 4,4 Prozent in Brandenburg denkbar schlecht ergangen ist.
Am 22. September steht nun die Landtagswahl an. Es wird befürchtet, dass sich die politische Landkarte des Bundeslandes blau einfärbt – die AfD also sehr viele Wahlkreise vor allem im Osten und Süden gewinnt. Ausschließen lässt sich ein Sieg der vom Verfassungsschutz als »rechtsextremistischer Verdachtsfall« eingestuften Brandenburger AfD nur in zwei von 44 Wahlkreisen – nämlich in den beiden Wahlkreisen der Landeshauptstadt Potsdam.
Dass Kerstin Kaiser gegen den negativen Trend ihrer Linkspartei in Strausberg, Petershagen-Eggersdorf und Rüdersdorf die Nase vorn haben wird, wäre im Normalfall ein Ding der Unmöglichkeit. Aber da gibt es ja dieses Möglichkeitsfenster: Viermal in Folge – 1999, 2004, 2009 und 2014 – konnte Kaiser ihren Landtagswahlkreis gewinnen. Keinem ihrer Genossen in Brandenburg ist je etwas Vergleichbares gelungen. Ex-Finanzminister Christian Görke schaffte in Rathenow nur drei Siege in Folge, und schon das war eine erstaunliche Leistung.
2019 ging der Strausberger Wahlkreis mit 25,2 Prozent der Stimmen an Elske Hildebrandt (SPD), eine Tochter der als Mutter Courage des Ostens verehrten einstigen Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD). Nur 0,2 Prozentpunkte hinter Elske Hildebrandt landete damals der Physiotherapeut Erik Pardeik (AfD). Hildebrandt und Pardeik treten jetzt wieder an. Angesichts einer erstarkten AfD und einer schwächelnden SPD könnte Pardeik das Rennen diesmal für sich entscheiden. Doch er muss auch Kerstin Kaiser auf seiner Rechnung haben.
Vor fünf Jahren fehlte Kaiser bei der Landtagswahl, sie leitete damals das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gregor Weiß erzielte in ihrer Abwesenheit für die Linke 17,5 Prozent. Doch nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges ist die Slawistin zurückgekehrt und wieder in ihrem Element. Das belegt ihr überdurchschnittliches Abschneiden bei der Kommunalwahl am 9. Juni, bei der sie wieder mit vielen Stimmen in die Stadtverordnetenversammlung Strausberg und den Kreistag Märkisch-Oderland gewählt wurde – als wäre sie zwischendurch nie weg gewesen.
Im Landtag möchte Kaiser »tun, was zählt«, wie sie den Wählern verspricht. »Aus guter wie schlechter Erfahrung sage ich: Bessere Politik gibt es nur, wenn wir sie zusammen Regierenden und ihrer Mehrheit abtrotzen«, ergänzt sie. Bei einer Flasche alkoholfreien Biers beurteilt Kerstin Kaiser im nd-Gespräch ihre Aussichten nüchtern und zurückhaltend. Sie möchte »diese eine winzige Chance nutzen und den Rechten das Direktmandat im Wahlkreis 32 nicht kampflos überlassen«.
Von einem »Möglichkeitsfenster« spricht sie, weil ihre Partei in Strausberg und Umgebung immer besser abgeschnitten hat als im Landesdurchschnitt und weil sie selbst auch stets deutlich mehr Erststimmen bekam als die Partei Zweitstimmen. Merke: Sie musste dafür persönlich Zustimmung auch von Menschen erhalten, die mit der Linken nichts am Hut hatten und mit der Zweitstimme andere Parteien ankreuzten.
Kaiser sieht ein großes Potenzial unter Wählern anderer Parteien, unter Kriegsgegnern bei SPD und Grünen und bei resignierten Nichtwählern sowie bei Wählern, die von der Linken enttäuscht sind. Besonders gilt das für die Anhänger der Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht. Deren neue Partei BSW tritt zwar mit einer Landesliste zur Landtagswahl an, und Umfragen versprechen ihr 17 Prozent. Das Bündnis Sahra Wagenknecht verzichtet jedoch auf Direktkandidaten in den Wahlkreisen. Kaiser weiß aus Gesprächen: Viele BSW-Wähler in Strausberg sind ehemalige Sympathisanten der Linken, für die spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Krieges nicht mehr klar erkennbar war, ob die Sozialisten noch weiter konsequent Kurs auf Frieden halten. Stichwort: Waffenlieferungen.
»Ich bin die Einzige, die nichtdie fatale Regierungspolitik verlängert, die gleichzeitig gegen Krieg und Militarisierung ist und der AfD den Wahlkreis 32 streitig machen kann.«
Kerstin Kaiser Landtagskandidatin
Der Landesvorsitzende, Fraktionschef und Spitzenkandidat Sebastian Walter zeigte zwar stets eine klare Haltung und demonstrierte zuletzt gegen die Stationierung von Raketen in Deutschland. In der Bundespartei meldeten sich aber auch andere Stimmen zu Wort. Bei Kaiser gab es da kein Schlingern. Sie ist sich treu geblieben. Jetzt erinnert sie: »Ich bin die Einzige, die nicht die fatale Regierungspolitik verlängert, die gleichzeitig gegen Krieg und Militarisierung ist und der AfD den Wahlkreis 32 streitig machen kann.«
Wem sollten Friedensfreunde, die von der Linken zum BSW gegangen sind, ihre Erststimme geben, wenn nicht Kerstin Kaiser? »Eine Stimme für mich ist eine Stimme für den Frieden«, wirbt sie um Unterstützung. Sie teilt mindestens eine Einschätzung des BSW-Landesvorsitzenden Robert Crumbach: Brandenburg hat zwar keinen Außenminister, könne aber gleichwohl auf die Außenpolitik der Bundesrepublik einwirken und für Frieden in der Ukraine eintreten.
55 in Deutschland, in Brandenburg oder wenigstens in Strausberg bekannte Persönlichkeiten haben einen Aufruf unterschrieben, der noch nicht veröffentlicht ist, dem »nd« aber schon vorliegt. Die Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi und Dietmar Bartsch gehören zu den Unterzeichnern, deren einstige Fraktionskollegin Dagmar Enkelmann und Brandenburgs Ex-Umweltministerin Antita Tack. Sie alle plädieren dafür, am 22. September Kerstin Kaiser zu wählen. »Wir erinnern uns an sie als eine verlässliche linke Abgeordnete, die in Potsdam nie ihre Basis und die Probleme im Wahlkreis vergessen, vernachlässigt oder für unwichtig gehalten hat«, heißt es darin. Dann in Losungen: »Gegen den Durchmarsch rechter Populisten, gegen den verordneten Zeitgeist.« Und: »Für ein Ende des Tötens.«
»Jetzt droht die Militarisierung aller Lebensbereiche«, heißt es in dem Schreiben. »Öffentliche Haushalte werden geplündert, angeblich in unser aller Interesse. Tatsächlich aber zum Wohle der Rüstungsindustrie.« Und weiter: »Wollen wir wirklich kriegstüchtig werden?« So wird gefragt mit Blick auf eine Forderung von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).
Frank Müller trat Ende 2023 mit einer Gruppe von Brandenburger Wagenknecht-Anhängern aus der Linken aus, wirbt aber jetzt für Kerstin Kaisers Wahl. Er könne nur Gutes über sie sagen, erklärt Müller, warum er den Aufruf ohne Zögern unterschrieben hat. Sie sei nie abgehoben und immer ansprechbar gewesen. Die Kandidatin freut sich, es gebe mehrere BSW-nahe Menschen unter den Unterzeichnern.
Die einst als Pazifisten gestarteten Grünen, die ihre Ideale spätestens beim Nato-Angriff auf Jugoslawien 1999 verraten haben, schicken im Wahlkreis 32 mit Christian Göritz-Vorhof übrigens einen Berufsoffizier ins Rennen.
Kerstin Kaiser ist 64 Jahre alt, stammt ursprünglich aus Stralsund, studierte in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg), hat fünf erwachsene Kinder und drei Enkel. Von 1999 bis 2016 war sie Landtagsabgeordnete, von 2005 bis 2012 Linksfraktionschefin und bei der Landtagswahl 2009 Spitzenkandidatin. Damals erzielte ihre Partei 27,2 Prozent der Stimmen – das zweitbeste Ergebnis nach 28 Prozent fünf Jahre zuvor.
2019 waren die Sozialisten auf 10,7 Prozent abgerutscht. Damit wären sie jetzt schon glücklich. Die Umfragen versprechen aktuell nur noch 5 Prozent. Rutscht Die Linke unter diese Marke, könnte sie ihren Wiedereinzug in den Landtag verpassen. Die Rettung wäre dann ein Sieg Kerstin Kaisers im Wahlkreis 32. Denn eine Partei, die in Brandenburg einen Landtagswahlkreis gewinnt, schaltet damit für sich die Fünf-Prozent-Hürde aus.
Darum unterstützt der Landesverband Kerstin Kaisers Kampagne finanziell. Es soll nichts unversucht bleiben. Auf der Landesliste steht Kaiser nicht. Sie tritt ausschließlich als Direktkandidatin in ihrem Wahlkreis an und hofft, ihn am 22. September ein fünftes Mal zu gewinnen.
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