• Politik
  • 20 Jahre Hartz-IV-Proteste

»Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr«

Die Montagsdemonstrationen gegen Sozialabbau im Sommer 2004 jähren sich zum 20. Mal

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
»Hartz IV bringt mein Herrchen in Not und mir den Hungertod«, meinte dieser Teilnehmer einer Demo gegen Sozialabbau 2004 in Berlin.
»Hartz IV bringt mein Herrchen in Not und mir den Hungertod«, meinte dieser Teilnehmer einer Demo gegen Sozialabbau 2004 in Berlin.

Es begann vor 20 Jahren mit handgemalten Schildern. Der arbeitslose Kaufmann Andreas Ehrholdt hatte eine Parole darauf geschrieben, ohne zu ahnen, wie viel Anklang sie finden würde: »Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr«. Am 26. Juli 2004 waren es noch wenige Hundert Menschen, die in Magdeburg mit ihm auf die Straße gingen. Im Laufe des August 2004 beteiligten sich immer mehr Menschen in ostdeutschen Städten an den Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit, oft in vierstelliger Zahl.

Am 30. August 2004 erreichten die Proteste ihren Höhepunkt: mindestens 200 000 Menschen gingen in über 200 deutschen Städten auf die Straße. Mehrere Wochen hielt sich die Zahl der Protestierenden auf diesem hohen Niveau. Erst im Oktober wurden es weniger.

Grund für die Demonstrationen waren die Hartz-IV-Reformen, die am 1. Januar 2005 in Kraft treten sollten. Das nach dem ehemaligen VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannte Reformpaket folgte dem Motto »Fördern und fordern«. Die Menschen sollten zwar bei der Jobsuche unterstützt werden. Doch jene, sie sich angeblich zu wenig um Arbeit bemühten, sollten die Peitsche der Sanktionen zu spüren bekommen. Viele Menschen fühlten sich zu Almosenempfänger*innen des Staates degradiert.

Mit Staunen beobachteten linke Gruppen, wie die Initiative von Ehrholdt in Ostdeutschland einen Nerv traf. Denn nun protestieren ganz ohne ihr Zutun Menschen in Ostdeutschland, die sonst nicht auf Demonstrationen zu sehen waren.

Gerd Neumann (Name geändert) von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) war einer der wenigen organisierten Linken am 26. Juli 2004 in Magdeburg auf der Straße. »Als unser Häufchen von sieben bis acht Leuten mit unseren Transparenten und den Parolen gegen Nazis, Staat und Kapital zur vielleicht 300 Teilnehmer*innen zählenden Demo stieß, wurde es freudig begrüßt«, erinnert er sich noch nach 20 Jahren. »Unsere Sprechchöre gegen Niedriglöhne und Zwangsarbeit wurden beklatscht. Wir dachten, jetzt geht es los. Die Menschen sind aufgewacht.«

Doch schon auf der zweiten »Montagsdemonstration« in Magdeburg folgte die Ernüchterung: »Mit über 6000 Versammelten hatte sich die Menge vervielfacht. Allerdings hatten sich diesmal Gruppen der extremen Rechten an die Spitze gestellt, und auch sie wurden von der Masse verteidigt.«

»Wir dachten, jetzt geht es los. Die Menschen sind aufgewacht.«

Gerd Neumann 
Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU)

In vielen Städten weigerten sich die Demonstrant*innen, mit Neonazis zusammen auf die Straße zu gehen. Doch der Ausschluss der Rechten war oft gar nicht so einfach. Die Organisator*innen mussten erst lernen, dass sie sich schon im Aufruf gegen Rechte positionieren mussten, um sie auch ausschließen zu können. Dabei leisteten Gewerkschafter*innen wie der ehemalige thüringische Vorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Angelo Lucifero, ebenso Hilfestellung wie Aktivist*innen der außerparlamentarischen Linken und der PDS.

Die Partei profitierte damals unmittelbar von den Anti-Hartz-Protesten. 2007 fusionierte sie mit der Gruppe »Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative« (WASG), die sich wegen der Hartz IV-Gesetze von der SPD abgespalten hatte, zur Linkspartei. Doch die große Masse der Demonstrant*innen betonte ihre parteipolitische Unabhängigkeit.

»Einzig die Montagsdemonstrationen 2004 im Osten Deutschlands können als spontaner Massenprotest gegen Hartz IV bezeichnet werden«, so die Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Harald Rein, der seit vielen Jahren im Rhein-Main-Gebiet in der selbstorganisierten Erwerbslosenbewegung aktiv ist.

Ein Grund, dass die Einführung von Hartz IV nicht verhindern werden konnte, lag auch darin, dass der Funke nicht nach Westdeutschland übergesprungen ist. Dort initiierten linke Gruppen in verschiedenen Städten Proteste gegen Hartz IV, die aber in der Teilnehmer*innenzahl überschaubar blieben. Ein Grund mehr, die selbstorganisierten Proteste im Sommer 2004 in Ostdeutschland nicht zu vergessen, die für einige Monate die soziale Frage auch auf die Titelseiten großer Zeitungen und in die Talkshows brachten und arme Menschen motivierten, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.