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Das Alte und das Neue
Von konservativen und progressiven Juden
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Was bedeutet es eigentlich, konservativ zu sein? Nun, was konservativ zu sein bedeutet ist klar.
Das ist klar, und das war es schon immer, weil es beim Konservativsein genau darum geht, was schon immer klar war – noch bevor überhaupt klar wurde, dass es hätte unklar sein können. Konservativ sein bedeutet: Man will, dass die Dinge immer so bleiben, wie sie noch nie waren.
Deshalb sollte man lieber gleich progressiv sein. Was bedeutet es, progressiv zu sein? Das bedeutet zu wissen, dass die Dinge immer besser werden, weil sie bisher ja auch schon immer hätten besser geworden sein können.
Die größte Frage, wenn man progressiv ist, lautet: Soll man progressiv bleiben oder konservativ werden? Wenn man progressiv ist, will man etwas Neues, in dem Fall müsste man also konservativ werden. Wenn man aber wiederum konservativ werden will, dann muss man konsequent beim Alten bleiben – und das heißt progressiv.
Progressiv sind wir Juden in höchstem Maße. Das ist eine uralte jüdische Tradition. Denn die Welt soll verbessert werden; das weiß schon die Kabbalah, und vor der Kabbalah wusste das schon die Mischna, und vor der Mischna wusste das bestimmt auch schon jemand – nur weiß man das nicht mehr. Jedenfalls: progressiv zu sein ist im Judentum eine uralte Tradition, und diese Tradition müssen wir bewahren, gegen jede Veränderung.
Kann es also manchmal progressiv sein, konservativ zu bleiben? Das ist genauso unklar, wie es immer schon war und wie es auch in Zukunft entweder konservativerweise unklar bleiben oder progressiverweise noch unklarer werden wird.
Was nun aber, wenn doch klar werden sollte, dass etwas unklar sein könnte, wovon vorher klar zu sein schien, dass es nicht unklar werden könne? Dann ist immerhin noch so viel klar: Der Fortschritt ist nicht weit. Unklar hingegen bleibt, ob der Fortschritt nicht weit vor einem oder nicht weit hinter einem ist, weshalb sich wieder die Frage stellt, ob man besser konservativ sein soll oder progressiv.
Das Problem der progressiven Deutschen ist: Sie wollen alle so schnell links fahren, dass sie einander rechts überholen müssen. Das kommt halt davon, wenn man sich zum Wagenknecht macht.
Da will man zum Beispiel russischer und progressiver sein als die russischen Progressiven. Da will man so rot pazifistisch sein, dass man dem Krieg den roten Teppich ausrollt. Da will man so antiimperialistisch sein, dass man antizionistisch wird. Und dann will man natürlich auch gleich so antizionistisch sein, dass man antisemitisch wird.
Das kommt freilich auch bei den Juden vor. Da wollen manche in ihrer Progressivität so sehr für alle anderen sein, dass sie am Ende vor allem gegen sich selbst zu sein scheinen. Man muss gestehen: Das hat eine gewisse Logik. Denn man selbst zu bleiben – das ist immer ein wenig konservativ.
So oder so: Nicht umsonst ist rechts überholen verboten. Aber da ist noch ein anderes Verkehrsproblem: Nicht nur überholt man einander rechts. Nein! Es gilt ja auch noch: Wer zweimal links abbiegt, fährt zurück.
Ist es dann vielleicht manchmal progressiver, konservativ zu sein? Vielleicht wählt manch einer gerade deshalb die konservativen Parteien, weil er hofft, sie würden die alten progressiven Verhältnisse wiederherstellen.
Damit ist eines auf jeden Fall deutlich klarer geworden: Nämlich, dass alles noch viel unklarer geworden ist. Und das ist, wie gesagt, immerhin ein Zeichen des Fortschritts.
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