Rassistische Kipppunkte nach dem Anschlag in Solingen

Die extreme Rechte versucht, aus dem Anschlag von Solingen Kapital zu schlagen

Gedenken, nah am Tatort des Anschlags von Freitagabend.
Gedenken, nah am Tatort des Anschlags von Freitagabend.

Freitagnacht, 23:56 Uhr: der österreichische Identitäre Martin Sellner fängt an, sich in Rage zu posten. Es ist gerade einmal zwei Stunden her, dass es in Solingen eine Messerattacke gegeben hat. Bestätigte Informationen sind Mangelware. Informationen über Tote und Verletzte vage. Den extrem rechten Influencer stört das nicht. Innerhalb der nächsten halben Stunde schreibt er vier Beiträge. Solingen, eine Folge der »Multikultihölle«. In seinem letzten Beitrag wird Sellner sogar hämisch. Auch in Solingen habe man »hysterisch« gegen seine Pläne demonstriert. Die Folgen der unterlassenen »Remigration« ernte die Stadt nun.

Sellner ist nicht der einzige, der schon in der Nacht anfängt, den Anschlag für rassistische Stimmungsmache zu nutzen. In zahlreichen Kanälen von Neonazis bis in die Neue Rechte wird ein Bild geteilt, das dazu aufruft, nicht zu trauern, sondern wütend zu werden. Die »Freien Sachsen« fragen in einem Text, ob nun ein »Kipppunkt« erreicht sei und die Menschen endlich zu Massenprotesten auf die Straße gehen. Was den sächsischen Rechten dabei vorschwebt, dürfte sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was nach dem dreifachen Mord in Southport passiert ist: tagelange rassistische Ausschreitungen.

Die »Freien Sachsen« vergessen aber nicht zu erwähnen, dass auch die Wahlen eine Möglichkeit seien »abzurechnen«. Ähnliches ist von zahlreichen AfD-Politiker*innen zu lesen. Der thüringische Spitzenkandidat Björn Höcke veröffentlicht ein in Schwarz, Weiß und Rot gehaltenes Bild mit den Worten »Solingen« und »Vielfalt«, außerdem ist ein blutiges Messer abgebildet. Im Begleittext heißt es, das »multikulturelle Experiment« müsse abgebrochen werden. Dafür soll man AfD wählen. Fans von Höcke, der ein Faschist mit streng völkisch-nationalistische Ansichten ist, treiben es sogar noch weiter. Sie verbreiten Texte, Bilder und ein Video mit dem Hashtag #HöckeOderSolingen. Mit »Remigration« meinen Kader wie Höcke oder Sellner nichts anderes als »Ausländer raus!«. Es soll sich nur nicht klar nach Gewalt anhören.

Die Tat in Solingen bietet der extremen Rechten noch einen weiteren Anknüpfungspunkt, der einige ihrer Köpfe angestachelt haben dürfte. Solingen ist im gesellschaftlichen Gedächtnis mit dem Brandanschlag von 1993 verknüpft. Dieser steht exemplarisch für die rassistischen Mobilisierungen Anfang der 1990er Jahre. Solingen steht aber auch für das, was dort nach dem Brandanschlag passiert ist. Für Mevlüde Genç, die ihre Angehörigen verloren und sich für Versöhnung eingesetzt hat. Nach ihr wurden ein Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen und vor anderthalb Jahren ein Platz in der Stadt benannt. Das Gedenken in Solingen steht für ein Deutschland, das sich angesichts von Pogromen gegen rassistische Gewalt wendet und für die Menschenwürde eintritt – ein Deutschland, das Nazis nicht gefällt.

Dieses anzugreifen, gehört zu den zentralen Zielen der extremen Rechten. Vorsichtig spricht man da von fehlendem Nationalbewusstsein. Andere mögen härtere Begrifflichkeiten, sprechen von einer »Multikulti-Gehirnwäsche«. Der Anschlag von Freitagabend liefert der extremen Rechten nun Munition, den Diskurs zu verschieben. Ist der neue Anschlag nicht viel schlimmer, weil er Deutsche getroffen hat? Wann werden Plätze nach den Opfern benannt? Diese sind ihnen nur wichtig, um sie gegen die Toten von 1993 und das, wofür sie stehen, in Stellung zu bringen.

Wie gut das gelingt und ob der mutmaßlich islamistische Anschlag zu rassistischen Massenmobilisierungen führt, wird wahrscheinlich schon an diesem Sonntag erkennbar werden. Die Jugendorganisation der AfD, die »Junge Alternative« ruft zu einer Kundgebung am Abend auf. Das zynische Motto: »Remigration rettet Leben!«. Antifaschisten aus der Region rechnen damit, dass die AfD-Jugend nicht unter sich bleibt und extreme Rechte aus unterschiedlichen Spektren anreisen. Der angemeldete Kundgebungsort liegt nur wenige Meter von einer Unterkunft für Geflüchtete entfernt, in der es eine Festnahme im Zusammenhang mit dem Anschlag gab. Ein ideales Ziel für rassistische Ausschreitungen. Antifaschistinnen haben Gegenprotest angekündigt.

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