US-Wahlen: Keine Erlösung in Sicht

Wer die USA von heute verstehen will, sollte sich in die römische Geschichte vertiefen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Weder die Demokraten noch (erst recht nicht) die Republikaner werden dieser Obdachlosen in New York Erlösung bringen.
Weder die Demokraten noch (erst recht nicht) die Republikaner werden dieser Obdachlosen in New York Erlösung bringen.

Das Römische Reich ging nicht von heute auf morgen unter. Es war ein quälend langer Prozess. Kein Wunder, dass der englische Historiker Edward Gibbon im 18. Jahrhundert rund 3000 Seiten benötigte, um den »Verfall und Untergang des römischen Imperiums« nachzuzeichnen.

Was dabei auffällt: Es gab nicht das Ereignis, das alles veränderte. Der »Verfall« vollzog sich als eine gemächliche Wellenbewegung, die mit dem Tod des Kaisers Mark Aurel im Jahr 180 einsetzte. Auf Phasen des Niedergangs folgten Zeiten der Erholung und des Aufschwungs, in denen sich das Römische Reich wieder berappelte und scheinbar zu alter Größe zurückfand.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Wer sich die Geschichte des amerikanischen Imperiums der letzten 60 Jahre anschaut, erkennt erstaunliche Parallelen. Als Tom Hanks’ heiterer Rock-’n’-Roll-Film »That Thing You Do!« 1997 in die deutschen Kinos kam, wurde er gefragt, warum er die Handlung ins Jahr 1964 verlegt habe. Seine Antwort ist auch für Historiker interessant: »1964 war mein Zufluchtsort – die Zeit des Optimismus, des Swing und der coolen Sonnenbrillen. Es war das Jahr, bevor Amerika endgültig seine Unschuld verlor, vor Vietnam. Plötzlich war da eine weltweit wirksame Kraft zu spüren, die aus dem Radio und aus dem Fernseher von uns Besitz ergriff. Wir glaubten noch, dass die Welt immer besser und besser werden würde. Wir waren überzeugt, wir würden bald alle mit Luftkissenfahrzeugen durchs Land düsen. Die Zukunft sah sehr vielversprechend aus.«

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Doch ebenjener Vietnam-Krieg, der seit 1965 eskalierte, beendete die gute alte Zeit. Das bis dato unbesiegte Amerika scheiterte daran, einen Gegner niederzuringen, der militärisch hoffnungslos unterlegen war. Binnen weniger Jahre kippte die Stimmung an der Heimatfront. Die USA begannen an sich selbst zu zweifeln. Als Präsident Lyndon B. Johnson 1968 auf eine erneute Kandidatur verzichtete, war dies auch das Eingeständnis, dass er es nicht vermocht hatte, das Auseinanderdriften der Nation zu verhindern.

Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass ausgerechnet jener Präsident, dem es zunächst gelang, durch eine progressive Innen- und eine geschickte Außenpolitik die Gesellschaft zu befrieden, am Ende den Keil noch tiefer trieb: Richard Nixon. Kein Politiker war beliebter als er. Bei der Präsidentschaftswahl 1972 holte er landesweit über 60 Prozent und machte zugleich in 49 von 50 Bundesstaaten das Rennen – das schaffte vor und nach ihm niemand. Doch mit dem Watergate-Skandal zerstörte er nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch den Glauben daran, dass Amerika es besser machte als der Rest der Welt.

Dieser Glaube hatte sich in den Jahren nach 1945 zementiert. Die USA erlebten einen nicht enden wollenden Aufschwung. Allein in den 60ern stieg die durchschnittliche Kaufkraft um 50 Prozent. Die Reichen wurden reicher, aber eben auch die Mittelschicht und Teile der Arbeiterschaft.

Doch mit den beiden Ölpreiskrisen 1973 und 1979, die mit der Killerkombi Rezession und Inflation einhergingen, setzte der Verfall ein. Einst blühende Industriestädte wie Detroit – das als Zentrum der Automobilbranche den Spitznamen Motortown/Motown hatte (weshalb sich die dort gegründete Plattenfirma Motown nannte) – verslumten binnen weniger Jahre. Wer konnte, ergriff die Flucht. In vielen Orten halbierte sich die Einwohnerzahl. Das Herz der Schwerindustrie – der Nordosten des Landes – verkam zum »Rust Belt«, zum Rostgürtel. Der sympathische, aber glücklose Präsident Jimmy Carter hatte das Pech, sich 1980, mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise, der Wiederwahl stellen zu müssen. Er hatte keine Chance gegen Ronald Reagan.

In der BRD gefielen sich linksliberale Medien wie »Spiegel« und »Stern« darin, den neuen Präsidenten als »ehemaligen Hollywood-Schauspieler« zu verhöhnen. In diesem wohlfeilen Spott offenbarte sich der Hochmut von Bildungsbürgern, die sich intellektuell überlegen wähnten. Was sie in ihrem Dünkel nicht bemerkten: Reagan war kein Westerndarsteller, der umgesattelt hatte, sondern ein überzeugter Politiker mit klaren weltanschaulichen Vorstellungen. Bei der Präsidentschaftswahl 1964 hatte er den republikanischen Kandidaten Barry Goldwater unterstützt, einen Libertären reinsten Wasser. Nun, 16 Jahre später, begann er dessen Agenda konsequent umzusetzen.

Wer die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt, ist zweitrangig. Ob Kamala Harris oder Donald Trump, beide stehen vor den Trümmern einer Wirtschaftspolitik, die Demokraten und Republikaner gemeinsam zu verantworten haben.

»Deregulierung« hieß das Zauberwort. Weniger Staat, mehr Freiheiten für die Unternehmen. Doch das damit verbundene »Jobwunder« wies einen entscheidenden Haken auf: die Bezahlung. Die Leute hatten zwar wieder Arbeit, aber bei vielen war die Lohntüte spürbar leerer. Es war eine Scheinblüte, wie sie auch das Römische Reich im 4. Jahrhundert erlebte hatte (bevor im 5. alles den Bach runterging). Denn der Boom war auf Pump finanziert. Durch die massiven Steuersenkungen unter Ronald Reagan und George Bush vervierfachten sich zwischen 1980 und 1992 die Staatsschulden der USA. Zudem zog der Aufschwung an vielen Regionen Amerikas vorbei. In Kalifornien prosperierten die IT-Firmen, während die Industrieanlagen im »Rust Belt« weiter vor sich hin rosteten.

Dies jedoch fiel erstaunlicherweise selbst den Demokraten nicht auf, und das, obwohl die Partei traditionell als gewerkschaftsnah und arbeitnehmerfreundlich galt. Noch 1990 hatte Donald Trump in einem »Playboy«-Interview zu seinen politischen Ambitionen erklärt: »Wenn ich tatsächlich kandidieren würde, dann wohl als Demokrat und nicht als Republikaner. (…) Der Arbeiter würde mich wählen.«

Doch die Demokraten sollten in der Folge ihre Kernklientel enttäuschen. Wer die heutige Entfremdung zwischen den Arbeitern und der Demokratischen Partei verstehen will, wird in den 90ern fündig. Als deren Kandidat Bill Clinton 1992 Präsident wurde, setzte er die neoliberale Politik seiner republikanischen Vorgänger Ronald Reagan und George Bush nahtlos fort. Der Niedriglohnsektor wuchs weiter, und durch die gesetzlichen Lockerungen in der Banken- und Börsenwelt schuf er die Grundlage für die Finanzkrise 2008. Es zeigte sich, dass sich die politischen Koordinaten seit den 60er und 70er Jahren radikal verschoben hatten. Verglichen mit dem Demokraten Bill Clinton wirkte der Republikaner Richard Nixon auf einmal wie ein linker Sozialdemokrat.

Es machte wirtschaftspolitisch keinen Unterschied mehr, ob man Demokraten oder Republikaner wählte. Die Siege von Barack Obama 2008 und 2012 täuschten darüber weg, dass den Demokraten in zahlreichen Bundesstaaten die Wählerbasis weggebrochen ist. Die Mitte und der Süden des Landes werden von den Republikanern dominiert.

Zugleich lässt die exorbitante Verschuldung der USA (mittlerweile über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) immer weniger Spielraum für politisches Handeln. Nicht zuletzt die Kriege in Afghanistan und im Irak sowie die Bewältigung der selbst verschuldeten Finanzkrise ließen die Kreditlast zwischen 2002 und 2012 von 6 auf 16 Billionen Dollar hochschießen. Wenn Donald Trump verkündet, er wolle die Unterstützung der Ukraine einstellen, dann hat dies auch monetäre Gründe. Der Weltpolizist USA kann sich Kriege schlicht nicht mehr leisten; sie sind zu teuer geworden. Auch das erinnert auf irritierende Weise an das Römische Reich. Als es außenpolitisch an allen Ecken und Enden brannte, kam man auch innenpolitisch mit dem Feuerlöschen nicht mehr hinterher. Und umgekehrt. Die inneren Verwerfungen machten es unmöglich, nach außen hin als starke Einheit aufzutreten.

Vor diesem Hintergrund ist es, zwar nicht aus ukrainischer, aber aus US-amerikanischer Sicht zweitrangig, wer die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt. Ob Kamala Harris oder Donald Trump, beide stehen vor den Trümmern einer Wirtschaftspolitik, die Demokraten und Republikaner seit Jahrzehnten gemeinsam zu verantworten haben. Wenn der »Stern« auf seinem Titelbild Kamala Harris als Freiheitsstatue und »Erlöserin« inszeniert, beweist er damit nur, dass er das Wesen des heutigen Amerika nicht verstanden hat: Dieses Land braucht keine Erlösung, sondern Zusammenhalt – womit wir wieder bei den Römern wären.

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