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Weniger Totenmaske als lebendiges Gesicht
Der Glasnevin Cemetery, Irlands größte Totenruhestätte, ist Geschichtsbuch, Krimi und wunderschöne Parkanlage zugleich
Keltenkreuze über Keltenkreuze, vereinzelt Obelisken, Säulen und Pylone – dicht bei dicht und unterschiedlich hoch. Nicht selten reichen ihre Oberkanten über die Zwei-Meter-Marke. Hier zwängt sich ein freistehender Sarkophag dazwischen, da ein schlichter Grabstein, dort ein kleines Mausoleum. Engel, Heilige und gotisch inspirierte Schnörkeltürmchen lockern strenge Linien auf, verleihen der geordneten, zugleich auch recht chaotisch wirkenden Versammlung etwas Spielerisches und Lebendiges.
Zusammen mit zum Teil sehr alten Bäumen recken sich die unzähligen grauen, selten weißen oder schwarzen aufstrebenden Steingebilde wie ein Wald in den mal wolkigen, mal blauen Himmel über Dublin. Gewidmet sind sie anderthalb Millionen Menschen, die hier in Glasnevin, dem größten Friedhof Irlands, ihre letzte Ruhestätte fanden.
Mehr als die Hälfte der Verstorbenen ist anonym. Es sind die Opfer von Epidemien sowie der großen Hungersnot in den 1840er Jahren. In Folge von Misswirtschaft und landwirtschaftlichen Katastrophen starben dabei zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Gleichfalls namenlos sind die Totgeborenen am »Plot of Angels« und die Zwangsarbeiterinnen der sogenannten Magdalena-Wäschereien, hinter denen sich nichts anderes als klösterliche Straflager verbargen.
Den Anfang der Geschichte dieser mittlerweile 50 Hektar großen, grünen, parkähnlichen Totenstadt muss man in deren Mitte suchen. Irgendwo hängt dort, nicht weit von einer Allee mit alten Bäumen, die ursprüngliche Eingangspforte noch in ihren Angeln. Wie vermutlich auch der Zaun, der sich ihr anschloss, aber längst beseitigt wurde, ist sie schmiedeeisern, schwarz und goldfarben lackiert. In der Höhe reicht sie einem mittelgroßen Menschen etwa bis zur Brust.
Zum ersten Mal geöffnet wurde diese Tür zur Einweihung des Friedhofs am 21. Februar 1832. An diesem Tag verstarb der elfjährige Michael Carey an der »Schwindsucht«, wie man Tuberkulose seinerzeit nannte. Am nächsten Morgen ließ ihn sein Vater, ein Schrotthändler in Dublin, in Glasnevin bestatten. Mittlerweile direkt mit der Torfassung verbunden ist der hohe Stein am Grab des Jungen. Es war das allererste auf dem ganzen Friedhof, ebenso das Keltenkreuz darauf – heutzutage Teil der weltweit größten Sammlung dieser typisch irischen Grabsteinart.
Von Beginn an darf auf diesem Friedhof jeder Tote ruhen – ganz gleich, von welcher Religion und welchem Stand und Rang. In enger Nachbarschaft versammeln sich die Gräber landesweit verehrter Heldinnen und Helden, berühmter oder unbekannter, mittelloser wie auch gutbetuchter Leute – Christen aller Konfessionen, Muslime, Juden, Atheisten. Seinen Ursprung hat »der Glasnevin« im Kampf der Iren gegen die Fremdherrschaft. Großbritannien hatte ihnen nicht nur Macht und Land genommen, sondern auch die Glaubensfreiheit.
- Allgemeine Infos:
www.tourismireland.com - Anreise: Dublin ist von vielen deutschen Flughäfen gut erreichbar, etwa per Direktflug vom Berliner BER mit Ryanair.
- Unterkunft: »Egans Guesthouse« hat gemütliche Zimmer, zehn Busminuten vom Dubliner Ausgehviertel Temple Bar entfernt (www.eganshouse.ie). Doppelzimmer gibt es ab 80 Euro. 25 Gehminuten vom Trinity College bietet die »Roxford Lodge« in einem eleganten viktorianischen Haus mit Kamin-Lounge stilvolle Übernachtungen ab 112 Euro für ein Doppelzimmer (www.roxfordlodge.ie).
- Aktivitäten: Der Glasnevin Friedhof liegt auf halbem Weg zwischen dem Dubliner Stadtzentrum und dem Flughafen. Er ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Das 2010 eröffnete Besucherzentrum mit Museum, Laden und Café ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt in die Ausstellungen kostet sechs Euro. Geführte Touren zu verschiedenen Themen dauern etwa 1,5 Stunden und kosten 14 Euro, eine begleitete Besichtigung des O’Connell Towers kostet zehn Euro. Selbstgeführte Audiotouren, auch in Deutsch, gibt es am Ticketschalter für acht Euro.
Die anglikanische Kirche forderte von Irlands Katholiken, teils auch andersdenkenden Protestanten, sogenannten Dissenters, unter anderem eine Strafsteuer, kontrollierte deren Gottesdienste wie auch Trauerrituale und untersagte ihre Grabgebete.
Unter Führung des katholischen Juristen und Politikers Daniel O’Conell, der seit seiner Jugend für Gleichberechtigung und religiöse Toleranz – ausdrücklich auch gegenüber Juden – eintrat, wurde Irland in den 1820er Jahren der Weg geebnet für mehr Unabhängigkeit und Freiheit. Auch die Trauerkultur profitierte davon, denn sie wurde wieder volksnah, waren die allermeisten Iren doch katholisch.
Auf O’Conells Wirken hin fand 1828, erstmals seit Erlassung der Strafgesetze im 17. und 18. Jahrhundert, ein katholisches Begräbnis statt. Das war im Dörfchen Inchicore am Rand von Dublin, heutzutage ein Stadtbezirk der irischen Hauptstadt. Wenige Monate später wurde dort der Goldenbridge Cemetery eröffnet – Irlands erster katholischer Friedhof seit der Reformation.
Mit einer Fläche von nur 1,3 Hektar reichte allerdings der Platz bei Weitem nicht. Dublin war zu dieser Zeit im Königreich der Briten die einwohnerreichste Stadt nach London – und mit Abstand jene mit den meisten Katholiken. Nachdem diese ihre Toten lange nicht hatten bestatten dürfen, wo und wie sie wollten, brachte ihnen 1829 der Catholic Emancipation Act viele Rechte wieder.
Danach musste ein weiterer und deutlich größerer Friedhof her. Daniel O’Conell und seine Organisation Catholic Association fanden einen geeigneten Standort in Glasnevin, rund vier Kilometer nördlich von Dublins Zentrum. Auf dem damals 3,6 Hektar großen Grundstück wurde 1832 der Prospect Cemetery eingeweiht. Statt seinen offiziellen Namen nutzten aber alle den des Dorfes, das inzwischen ebenfalls Teil von Dublin ist.
Spätestens 1847, als Daniel O’Conell mit 71 Jahren selbst aus dem Leben schied und mit einem riesigen Trauerzug nach Glasnevin gebracht und dort begraben wurde, galt der Friedhof als ein nationales Heiligtum. Sein Wahrzeichen, den 55 Meter und 198 Stufen hohen O’Conell Tower erhielt er acht Jahre nach dem Tod des gefeierten »Befreiers«. Außer dem weithin sichtbaren Rundturm besteht das Grabdenkmal aus einer Krypta mit dem Sarkophag, in den man 1869 Daniel O’Conells sterbliche Überreste umbettete.
Durch die Bestattung angesehener Persönlichkeiten stieg das Ansehen des anfangs gar nicht allzu populären Friedhofs spürbar. Weil viele ihre Toten und sich selbst in deren Nähe ruhen lassen wollten, füllten sich die leeren Flächen um die Promi-Gräber rasch.
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Doch nicht nur Grabstätten von Stars und Helden machen den Besuch von Glasnevin so interessant. Spannend auch für ausländische Gäste sind die Geschichten hinter all den eingravierten Namen, die wohl die meisten hier zum ersten Male lesen.
Elizabeth O’Farrell etwa. Die bemerkenswerte, mutige junge Frau war 1916 aktive Teilnehmerin des Osteraufstandes gegen die Briten, der zwar missglückte, aber einen Wendepunkt auf dem Weg in die Unabhängigkeit im Jahr 1922 darstellte. Als Krankenschwester trug sie die weiße Flagge der Kapitulation durch feindlich besetzte Straßen. Das Grab mit den meisten Blumen ist das von Michael Collins, einem beliebten Anführer des irischen Unabhängigkeitskampfes. Er starb 1922 als Vorsitzender der provisorischen Regierung und Oberbefehlshaber der irischen Streitkräfte im Alter von 32 Jahren.
Der gebürtige Dubliner George Cronin war 23, als er 1918 als US-Soldat in Frankreich fiel und als einziger Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs in Glasnevin beerdigt wurde. Fast im gleichen Alter starben in den 50ern der Fußballstar Liam Whelan bei einem Flugzeugabsturz in Deutschland sowie der Zirkusmann Bill Stephens, auf dessen Grabstein steht: »Killed by lion«. Nachdem der 29-jährige Dompteur zweimal lebensgefährlich von einer Löwin verletzt worden war, tötete ihn der Ex-Zoolöwe Pascha. Eines der meistbesuchten Gräber Glasnevins ist das des Sängers und Banjospielers Luke Kelly, Kopf der Irish-Folk-Band »The Dubliners«. Mit 43 Jahren erlag der gefeierte Musiker 1984 einer Krebserkrankung.
Unter all den vielen Toten auf dem Glasnevin Cemetery brachte es – Umbettungen ausgenommen – nur eine einzige auf zwei Begräbnisse: Maria Higgins. Bei ihrem ersten 1854 wurde aber nur ein leerer Sarg bestattet. Um eine Erbschaft zu ergaunern, hatten sie und ihr Mann ihren Tod nur vorgetäuscht. Der Schwindel kam heraus. Mister Higgins musste ins Gefängnis. Maria wurde freigesprochen und lebte froh und munter, bis sie 17 Jahre später starb und unweit ihrer ersten auch die zweite, wirklich letzte Ruhestätte fand.
Mehr über die vielen Einzelschicksale von Glasnevin erfährt man bei einer Führung oder im Besucherzentrum, einem modernen Glasbau am Rand des Friedhofs. Das dortige Museum bietet neben dem Register aller hier Bestatteten vor allem eine sehr informative wie unterhaltsame Ausstellung und obendrein auch eine tolle Aussicht auf den Friedhof, der direkt mit den wunderschönen Anlagen und Häusern des »National Botanic Garden« verbunden ist.
Glasnevin ist längst nicht nur ein Ort für Trauer, Ehre und Gedenken. Der Friedhof zeigt ein Bild der irischen Gesellschaft – nicht etwa als Totenmaske, sondern als überaus lebendiges Gesicht.
Die Recherche für diesen Beitrag wurde teilweise unterstützt von Tourism Ireland.
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