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Genozid-Forscher: »Das Ziel war, Gaza unbewohnbar zu machen«
Genozid-Forscher Omer Bartov über Widersprüche des Zionismus und mangelnden Druck auf Israel
Sie haben vor einigen Tagen einen langen Essay im britischen »Guardian« veröffentlicht. Darin berichten Sie von einer Israel-Reise und zitieren den eher progressiven Autor Zeev Smilansky: »In meinem Herzen ist kein Platz für die Kinder von Gaza, egal wie schrecklich das ist, und obwohl ich weiß, dass Krieg keine Lösung ist.« Ich hatte den Eindruck, dass Smilanskys Aussage Sie noch mehr entsetzt hat als Ihre Begegnungen mit der extremen Rechten.
Zeev und ich kennen uns seit unserer Jugend. Sein Vater, der ein wichtiges Buch über die Vertreibung der Palästinenser 1948 geschrieben hat, war ein enger Freund meines Vaters. Aber mein Entsetzen hatte nicht nur damit zu tun, dass wir uns persönlich kennen. Wir alle wissen, dass die Rechte in Israel extreme Positionen vertritt. Schockierend für mich war, dass jetzt auch gemäßigte Israelis, denen klar ist, dass das Töten in Gaza kriminell ist, derartige Dinge sagen. Wenn eine Gesellschaft den in ihrem Namen begangenen Schrecken ausblendet, hat das politische Konsequenzen: Man lässt denen freie Bahn, die wissen, was sie wollen. Es ist eine Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft faschistisch wird.
Der 1954 in Israel geborene Omer Bartov ist Historiker an der Brown University in Rhode Island/USA und gilt als einer der führenden Genozidforscher. International bekannt wurde er mit seinen Arbeiten über die Rolle der Wehrmacht in der antisemitischen Vernichtungspolitik der 40er Jahre.
Sie haben intensiv zu der Frage geforscht, wie deutsche Soldaten ihre Gewaltexzesse mit der Entmenschlichung ihrer Opfer rechtfertigten, und warnten deshalb schon während der ersten Intifada 1987, der israelische Staat dürfe niemals einen vergleichbaren Weg einschlagen. Heute ist die Entmenschlichung der Palästinenser in der israelischen Gesellschaft breit akzeptiert. War diese Entwicklung unvermeidbar?
Sie ist eine logische Konsequenz der Besatzung seit 1967. Ein Besatzungsregime wird fast zwangsläufig immer gewalttätiger – ganz einfach, weil es auf Widerstand stößt. Wenn du Generationen junger Männer und Frauen mit einer vermeintlich liberalen Erziehung in Gebiete schickst, in denen sie sich wie Landherren aufführen können, wirst du einen moralischen Verfall der Gesellschaft und eine politische Korrumpierung des Systems erleben. Und Israel ist mittlerweile seit 57 Jahren Besatzungsmacht! Das wirkt sich auf die gesamte Gesellschaft, selbst auf Kritiker der Besatzung aus. Niemand kann sich diesem Prozess entziehen.
Vermutlich sieht es in der palästinensischen Gesellschaft nicht viel anders aus.
Ich glaube, man sollte nicht von einem symmetrischen Konflikt ausgehen. Es gibt eine israelische Seite, die die Palästinenser unterdrückt, und es gibt eine palästinensische Seite, die dagegen Widerstand leistet. Mir ist schon klar, warum die zionistische Bewegung auf die Idee kam, nach Palästina zu gehen. Ich stamme selbst aus einer Familie, die wegen der antisemitischen Gewalt in Europa eine eigene jüdische Nation aufbauen wollte. Aber spätestens ab 1948 repräsentierte Israel die Seite der Macht. Bei der Staatsgründung hat man 750 000 Menschen vertrieben und an die 500 Dörfer zerstört. Vor diesem Hintergrund gibt es eine große Feindseligkeit unter den Palästinensern. Trotzdem würde am Ende vermutlich eine große Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland – die Menschen in Gaza haben im Augenblick vermutlich keine Kraft, irgendetwas zu denken – einem Kompromiss zustimmen, der es ihnen ermöglicht, in Frieden zu leben. Übrigens glaube ich, dass es auch auf der israelischen Seite letztlich diese Mehrheit geben würde.
In Ihrem Artikel sprechen Sie von einer »Transformation des Zionismus«, der sich »aus seiner Ideologie zur Befreiung der Juden in eine Staatsideologie des Ethnonationalismus, der Unterdrückung anderer, des Expansionismus und der Apartheid verwandelte«.
Meiner Ansicht nach hatte der Zionismus von Anfang an ein Problem, das er mit allen Ethnonationalismen – dem deutschen, polnischen, ungarischen – teilt: Er verknüpft eine ethnische Gruppe mit einem bestimmtem Territorium. Das schafft enorme Widersprüche: Im Polen der Zwischenkriegszeit beispielsweise war nur etwa 60 Prozent der Bevölkerung polnisch und katholisch. Das nationalsozialistische Deutschland wollte ständig in Gebiete expandieren, in denen eine deutsche Bevölkerungsgruppe lebte. Der Zionismus hat sich das ethnische Prinzip des europäischen Nationalismus zu eigen gemacht und Anspruch auf ein Land formuliert, von dem die Urahnen vor 2000 Jahren vertrieben worden waren. Als die Zionisten dann in Palästina ankamen, verhielten sie sich wie eine siedlerkoloniale Bewegung. Sie sprachen von sich selbst als Siedlern und hielten Kolonisierung für einen positiven Begriff. Die Palästinenser haben darauf reagiert, indem sie ebenfalls eine Nationalbewegung begründeten. In diesem Sinne überlagern sich zwei Ebenen: Zum einen stehen sich zwei Nationalbewegungen gegenüber, zum anderen trifft eine siedlerkoloniale Bewegung auf eine indigene Bevölkerung. Das hat sich verschärft: Bei der Gründung Israels 1948 waren 80 Prozent der Bevölkerung jüdisch, seit 1967 ist das Verhältnis 50 zu 50. Heute leben jeweils 7 Millionen Juden und Palästinenser zwischen Jordan und Meer.
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In Ihrem Essay zitieren Sie aus der Unabhängigkeitserklärung: »Der Staat Israel wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht gleiche soziale und politische Rechte verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten und die Heiligen Stätten aller Religionen unter seinen Schutz nehmen.« Sie kritisieren, dass Israel daraus nie eine Verfassung gemacht hat.
Israel hätte dann das Problem lösen müssen, dass 20 Prozent der Bevölkerung nicht jüdisch, sondern christlich, muslimisch, drusisch und so weiter ist. Israel versteht sich heute als »jüdisch und demokratisch«. Aber was bedeutet das, wenn nicht alle Staatsbürger Juden sind? Genau das ist das Problem: Die beiden Begriffe stehen in Konflikt zueinander. Ein Staat kann nicht gleichzeitig ethnonationalistisch begründet und demokratisch sein. Um dieses Problem nicht lösen zu müssen, hat man die Verabschiedung einer Verfassung vermieden.
Ende vergangenen Jahres schrieben Sie in der »New York Times« über die »Gefahr eines Genozids«. Jetzt konstatieren Sie, dass er stattfindet.
Im November gab es zahlreiche Statements von Politikern und Militärs, die man als genozidale Aufforderungen an die Soldaten verstehen konnte, weil sie eine Dehumanisierung der palästinensischen Bevölkerung propagierten. Die Uno definiert Völkermord als Handlung, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Es geht also nicht um absolute Opferzahlen, sondern um die Intention. Wenn man sich nun anschaut, was seit Oktober in Gaza passiert ist, dann muss man festhalten, dass die israelische Armee sämtliche Infrastrukturen – Schulen, Unis, Krankenhäuser, Wohngebäude – systematisch zerstört hat und Seuchen in Kauf nimmt.
Meiner Ansicht nach bestand das Ziel der Operation nie darin, Hamas zu zerschlagen und die Geiseln zu befreien – beides ist ja gescheitert. Stattdessen ging es darum, das Leben in Gaza auf lange Sicht unmöglich zu machen. Die Bevölkerung wird sterben oder den Gazastreifen verlassen. Wahrscheinlich gab es keinen ausformulierten Plan für einen Genozid, eher so etwas wie einen stillschweigenden Konsens – aber wir werden das vermutlich auch nie abschließend klären können. Deshalb verwende ich den Begriff der »genozidalen Handlungen«.
Die Zweistaatenlösung ist nicht mehr realistisch, weil ein palästinensischer Staat von Siedlungen durchlöchert wäre. Sie haben deshalb einen »konföderalen Staatenverbund« vorgeschlagen. Worin würde diese Lösung bestehen?
Das ist nicht meine Idee, den Vorschlag gibt es bereits seit den 1920er-Jahren. Seit einiger Zeit versucht die Gruppe »Land for all« das Konzept auszuformulieren. Die Ausgangsfrage lautet, wie sich Selbstbestimmung und Rückkehrrecht für beide Seiten umsetzen lassen. Eine Lösung könnte sein, dass entlang der 1967er-Grenze zwei Staaten mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt gegründet werden. Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht könnten in dieser Konföderation auseinanderfallen.
Wenn Siedler in Palästina bleiben möchten, könnten sie das tun – solange sie sich an die palästinensischen Gesetze halten. Dasselbe würde für Palästinenser gelten, die aus dem Ausland nach Haifa zurückkehren wollen. Sie könnten als palästinensische Staatsbürger in Israel leben. Die Grenzen zwischen beiden Staaten wären offen; innere und äußere Sicherheit würden gemeinsam koordiniert. Auf diese Weise würde die symbolische Bedeutung der Stätten für alle anerkannt, und man könnte den Wunsch beider Seiten berücksichtigen, in diesem Land zu leben. Heute ist die Angst zu groß für einen derartigen Schritt, aber als Perspektive wäre das durchaus ein vorstellbares Projekt.
US-Präsident Joe Biden hat gerade erst neue Waffenlieferungen in Höhe von 20 Milliarden Dollar bewilligt. Was könnte aus dem Ausland getan werden, um den Krieg zu stoppen?
Sehr viel. Biden hätte Israel im November ein Ultimatum setzen können: »Wenn ihr nicht aufhört, seid ihr allein. Dann stellen wir unsere Waffenlieferungen ein und geben euch keine Rückendeckung im Sicherheitsrat mehr.« Ich bin mir sicher, dass Israel den Krieg dann innerhalb von zwei Wochen beendet hätte. Biden hat das nicht gemacht, weil dieses Ultimatum für ihn einen innenpolitischen Preis gehabt hätte. Doch aus Sicht der USA war das ein großer Fehler. Wir stehen am Rande eines Regionalkriegs, und Netanjahu führt Israel unbeirrt in eine Katastrophe hinein, die keine Sieger kennen wird.
Aber auch Europa hätte viel mehr Druck ausüben müssen. Etwa 20 Prozent der ausländischen Waffenlieferungen kommen aus Deutschland, und auch die Handelsverträge könnten ein wichtiges Druckmittel sein. Die EU könnte sie an das Verhalten Israels in der Westbank koppeln. Genau das verstehe ich nicht: Warum baut die europäische Öffentlichkeit keinen Druck in diese Richtung auf? Stattdessen gibt es viele kleine Boykottkampagnen, die auf die Ausladung israelischer Künstler und Akademiker abzielen. Ich kann Ihnen versichern: Es gibt nichts, was die israelische Regierung weniger beeindruckt.
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